56. Thassilo in Lorsch

[53] Es geschah, daß Kaiser Karl der Große zu streiten kam mit Thassilo, dem mannlichen Bayerherzog, der sein ganz naher Verwandter war, und da er großes Unrecht durch Anreizung der Widersacher Karls verübt, so übte Karl eine erschreckliche Rache und ließ ihm eine entsetzliche Strafe zuteil werden. Karl ließ den Agilolfinger Thassilo blenden, welches dadurch geschah, daß jener gezwungen ward, auf einen seinen Augen nahegebrachten, im Feuer glühend gemachten Schild zu sehen, bis ihm das Licht der Augen dunkel ward und gar verging. Sein langes Haar ward vor dem Thron ihm abgeschnitten und er zum Mönch geschoren, dann sollte er nach des Kaisers Gebot eingetan werden als Mönch in ein Kloster, damit er büße und bete all sein Leben lang. Darauf nach langen Jahren begab es sich, daß einstmals Kaiser Karl gen Lauresheim, das ist Lorsch, das Kloster, kam, und hatte den Herzog Thassilo längst vergessen, und sich gedrungen fühlte, zur Nachtzeit im Münster dort zu weilen und zu beten, da nahm er mit Staunen wahr, wie ein Mönch durch den Kreuzgang unsichern Trittes wandelte, welcher blind war, ihm zur Seite aber ein lichtumflossener Bote Gottes ging, der ihn leitete. Des Greises Züge kamen dem Kaiser bekannt vor, doch konnte er sich dessen Namens nicht entsinnen. Und der Mönch ward von Altar zu Altar geleitet und betete an jedem und schritt dann mit seinem überirdischen Führer still zurück. Darauf hat der Kaiser am andern Morgen den Abt des Klosters Lorsch zu sich entboten und hat ihn gefragt, welchen Mönch er[53] im Kloster habe, dem ein Engel diene. Der Abt erstaunte und wußte nichts zu sagen, folgte aber des Kaiser Gebot, in nächster Nacht mit ihm des Mönchs wieder zu harren. Da geschah es ganz so wie in der vorigen Nacht, daß der blinde Mönch wieder kam und der Engel ihn geleitete. Und der Kaiser, gefolgt von dem Abt, ging, als der Mönch gebetet hatte, dem Mönch und dessen Führer nach, und trafen den Mönch allein in seiner Zelle. Der Abt kannte den Mönch aber nur unter seinem Klosternamen und wußte nichts weiter von ihm. Nun sprach der Abt ihn an, zu sagen, was er vordem in dem weltlichen Leben gewesen, und nichts zu verhehlen und zu verschweigen, denn sein Herr und Kaiser sei es, der vor ihm stehe. Da sank der blinde Mönch zu des Kaisers Füßen nieder und sprach: O Herr! Viel habe ich gegen dich gesündigt, und meine Buße währet für und für. Thassilo war ich vordem geheißen. – Da hub ihn der Kaiser gnädiglich auf und sprach: Schwer hast du gebüßt, und härter, als mir lieb, all deine Schuld sei dir vergeben. Da küßte der blinde Greis des Kaisers Hand und sank zur Erde und verschied. Im Kloster Lorsch ruht sein Staub.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 53-54.
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