125. Fastradas Liebeszauber

[102] Mit einer unsterblichen Liebe liebte Kaiser Karl sein Ehegemahl Fastrada, bis sie erkrankte und starb. Dies geschah zu Frankfurt am Main, von wannen ihr Leichnam erhoben ward und gen Mainz geführt, ihn allda zu bestatten. Aber der Kaiser wich nicht von der Verstorbenen und duldete nicht, daß man sie von ihm entferne, denn es fesselte ihn ein Zauber, wie vorher an die Lebende, so jetzt an die Tote. Das ward des Kaisers Umgebung auf die Länge ganz unerträglich, fort und fort den Stank der Verwesung zu atmen, und endlich ahnete der weise Turpin, des Kaisers Ohm und Bischof von Mainz, daß ein Zauber hier walte, suchte und fand im Munde der Toten, oder nach andern in ihr Haar geflochten, den Ring mit dem Edelstein, den damals zu Zürch die Schlange in des Königs Becher gesenkt, und nahm den Ring an sich. Alsbald wich der Zauber von Fastradens Leichnam, die dem Kaiser bislang noch immer schön und frisch und blühend, wie eine Schlafende, erschienen war, deshalb er sie auch nicht zu bestatten erlaubte – und er erbebte jetzt vor ihrem Anblick und wollte sie nicht mehr sehen. Also ward Fastrada bestattet, aber nun wandte sich Karls ganze Liebe dem Erzbischof zu, der nun schon wußte, woher diese Neigung stamme. Und als Erzbischof Turpin im Gefolge des Kaisers gen Aachen zog, da sah er unterm Frankenberge einen schönen See, der war still und tief und heimlich. Dahinein warf Turpin den Schlangenring. Alsobald entwich die Zauberliebe aus Karols Herzen und wandte sich nun zu diesem See, wollte nimmer von ihm scheiden. Ließ ein Schloß zur Wohnstätte auf den Berg über dem See bauen, da weilte er nun immerdar und hatte seine Augen stündlich auf den See gerichtet und verordnete, daß man ihn bei seinem Absterben allda in seinem Münster zu Aachen begraben solle, befahl auch, daß alle seine Nachfolger zu Aachen vor ihrer Krönung sich sollten salben und weihen lassen, welches auch also geschehen ist in langer Reihe deutscher Kaiser bis nahe heran an die neue Zeit, da man nicht mehr deutsche Kaiser zu salben und zu krönen hatte und das Reich ein Ende genommen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 102.
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