289. Vom Eisenberge

[209] Im Waldeckischen erhebt sich ein hoher Berg, den ein Schloß krönte, Berg und Schloß war der Name Eisenberg gemeinsam. Des Eisenerzes birgt der Berg in Fülle in seinem Innern, und auf dem Schlosse herrschten in grauen Zeiten die mannlichen Grafen von Waldeck; viele des edeln Geschlechtes wurden auf dem Schlosse geboren. Aber nicht Eisen allein, auch Gold lieferte der Eisenberg, und lange ward in ihm ein ergiebiges Goldbergwerk betrieben. Aber das Schloß ward Trümmer und schwand hinweg, und das Bergwerk ging ein.

Eines Tages hütete ein Schäfer auf des Berges einsamer Höhe. In der Mittagsstunde legte er sich zur Ruhe unter den Schatten eines Holunderbaumes, und als er wieder aufwachte, hatte die Dämmerung schon begonnen. Die Herde lag friedlich um ihn her, aber der Leithammel fehlte. Da hörte der Schäfer diesen kläglich blöken und folgte der Stimme des treuen Tieres. Siehe, da blitzte klarer Schein aus einem verfallenen Kellergewölbe der alten Burg, und drunten im Gewölbe steht der Hammel, und neben ihm steht ein großer Kessel voll alte Taler. Der Hirte, nicht faul, steigt hinunter, greift zu und stopft sich Tasche und Hut voll Taler, dann gibt er dem Hammel einen sanften Stoß, wieder hinaufzuspazieren, und spricht: Du bist ja ein tausendsappermentscher Teufelskerl! Wie der Schäfer geredet hat, erhebt sich droben am Eingange in den Keller ein eisgrauer alter Mann, angetan mit einem langen weißen Rocke, mit Streifen besetzt, rot wie Blut, der hebt ein silbernes Horn zum Munde und bläst mit einem allgewaltigen Schall,[209] daß die Bäume wie vom Sturmwind geschüttelt rauschen, das Gewölbe erdröhnt und der Erdboden schüttert. Von dem entsetzlichen Schall vergeht Hören und Sehen dem Hirten, er wirft alles genommene Geld von sich, unendliches Zagen und Grausen erfaßt ihn, er stürzt besinnungslos zu des alten Greises Füßen nieder. Lange lag er so, als er wieder zu sich kommt, ist es heller Tag, seine Sachen liegen oben neben ihm – die Herde liegt auch da, kein Stück fehlt, nur das Geld, nur das Gewölbe, nur der Kessel, selbst der verfallene Eingang sind verschwunden.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 209-210.
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