321. Der Croppenstedter Vorrat

[232] Zwischen Halberstadt und Egeln liegt das Städtchen Croppenstedt, da haben sie ein seltsam Wahrzeichen, das ist ein silberner Pokal, der steht alldort auf dem Rathause und heißt der Croppenstedter Vorrat. Darauf sind in getriebener Arbeit dreizehn Wiegen abgebildet zu sehen und eine Mulde, und in jeder Wiege liegt ein Kind, und in der Mulde liegt auch eins, und dabei erzählen sie, es habe einstmals zu Croppenstedt ein Kuhhirte gelebt, der habe es in einem Jahre dahin gebracht, daß ihm von zwölf Geliebten vierzehn Kinder geboren worden, und dies bezeugt auch eine Inschrift in lateinischen Versen an dem Becher. Die zwölf glücklichen Mütter hätten sich zu rechter Zeit nach Wiegen umgetan, allein der ganze Vorrat[232] an Wiegen zu Croppenstedt habe sich nur auf dreizehn Wiegen erstreckt, und da habe sich das vierzehnte Knäblein (es waren lauter Knäblein) mit einer Mulde begnügen müssen. Zum Angedenken eines so fruchtbaren Jahres ließ der Rat des Städtleins den Silberpokal anfertigen, und solange dieser treulich aufbewahrt wird, soll es dem Städtlein Croppenstedt niemals an Wiegenvorrat und an Kindersegen gebrechen, denn von dort schreibt sich das alte gute Sprüchwort her: Vorrat ist Herr.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 232-233.
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