520. Der Greifenstein

[360] Ein thüringischer Graf des Namens Heinrich brachte aus einem Kreuzzuge einen Greifen mit, andere sagen einen Falken, der nur auf den Namen Greif gehört. Einst ließ der Graf den Greif nach einem Reiher steigen, er stieg und kam nicht wieder, das war dem Grafen sehr leid, und er gebot seinen Dienern, allüberall zu suchen und zu spähen, ob sie den Greif fänden – es war aber vergebens. Des andern Morgens ging der Graf selbst wiederum aus, den Falken zu suchen, den er sehr ungern mißte. Da erblickte er ihn nach dem Kesselberge zu hoch in der Luft schweben und im Nu auf einen Schwarm Vögel niederstoßen, die sich auf einem nahen Berge niederließen. Eilends bestieg der Graf diese Anhöhe und fand seinen Greif an dem Orte, wo sonst die Burggerichte gehalten wurden, im Gebüsche[360] seine Beute verzehrend, rings umher aber Singvögel, die von ihren Nestern aufflatterten. Ei, ei, du loser Schelm, sagte der Graf scherzend, hab' ich dich nicht gehalten wie ein Kind, und doch willst du mich verlassen? Freilich ist's hier schöner als auf meiner Hand, und du hast dir wahrlich keine üble Residenz erwählt. So sprach der Graf, und seinen Greif auf die Hand nehmend und streichelnd, schaute er sich um, und weil ihm der Platz so wohl gefiel, da man von ihm aus Tal und Gegend weit überschaute, so kam es ihm in den Sinn, hier eine Burg zu erbauen. Noch in demselben Jahre wurde der Grund gelegt; der Bau währte mehrere Jahre, denn es wurde so fest und stark gebaut, wie wenn die Mauern ewig halten sollten; ja, der Mörtel, der noch jetzt mit unverwüstlicher Festigkeit die mürben Sandsteine zusammenhält, soll mit Wein angemengt worden sein, damit er die Steine um so fester kitte. Die Burg aber nannte der Graf zum Andenken seines Greifes, der den Platz erwählt, Greifenstein, das Volk nennt sie nur das alte Schloß und glaubt, sie sei bei einer Belagerung zerstört und verbrannt worden, obgleich diese Meinung der Geschichte zuwiderläuft; in der Geschichte aber heißt sie die Blankenburg, und die Grafen von Schwarzburg hatten sie inne und wohnten auf ihr.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 360-361.
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