653. Der Glockenguß zu Breslau

[437] Zu Breslau, dem einen Auge Schlesiens, wie die Stadt vor alters genannt ward – das zweite ist Liegnitz –, wurde für den Turm der Kirche Sankt Magdalena eine Glocke gegossen. Alles war zum Guß bereit, als der Meister sich für kurze Zeit erst noch einmal entfernte und dem Lehrjungen streng verbot, etwas anzurühren und beileibe nicht das Metall in die Form auslaufen zu lassen. Aber die schlimme Neugier trieb den Jungen an, am Zapfen zu atzeln, und unversehens strömte das geschmolzene Metall heraus und in die Form hinein und füllte sie ganz aus. Zum Tod erschrocken und zitternd kam der Junge zum Meister und bekannte es, und den Meister ergriff der Zorn allzusehr, so daß er sein Schwert zog und den Jungen niederstach, wie der Glockengießer zu Attendorn seinen Gesellen. Dann eilte er hin in das Gießhaus und sah nach und glaubte den ganzen Guß mißlungen; aber siehe, er war herrlich wohlgeraten. Da reute ihn die übereilte Zornestat, die sich nicht verhehlen ließ; bald darauf saß er im Kerker und empfing sein Urteil, das lautete: Tod durch das Henkerschwert. Inzwischen seiner Haft zog man die Glocke auf, und als es nun dahin gedieh, den armen Sünder zur Richtstatt zu führen, da bat er flehentlich, man möchte ihm noch die Gunst erzeigen und seiner Glocke Ton ihm zum letzten hören lassen. Dies geschah, und da mag wohl die Glocke einen Ton gegeben haben wie die Krempner:[437] Schad um den Jungen! Schad um den Jungen! Hernach ist die Glocke stets geläutet worden, wenn ein armer Sünder vom Rathaus fort und zum Hochgericht geführt wurde. Es ist eine große schwere Glocke, die funfzig Schläge von selbst schwingt, wenn sie auf funfzig Schläge gezogen worden.

Im Dom zu Breslau hat immer eine Glocke von selbst geläutet, wann ein Kanonikus sterben sollte, auch fand man im Chorgestühle auf eines solchen Platz stets eine weiße Rose.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 437-438.
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