657. Die Linde der Sibylle

[439] Eisersdorf, dahin die Heidenjungfrau auf dem Schlosse zu Glatz mit ihrem Bogen schoß, liegt von Glatz eine gute böhmische Meile am Flüßchen Biele. Dort stand eine große uralte Linde, die war weit und breit berühmt; sie sollte so alt sein als der Heidenturm auf dem Schlosse zu Glatz. Wenn sie auch wegen hohen Alters von Zeit zu Zeit einmal verdorrete, so grünte sie doch immer wieder von neuem aus. Auf dieser Linde saß die Sibylle und weissagte viel von künftigen Dingen der Stadt Glatz. Der Türke werde gen Glatz kommen, und wenn er durch die steinerne Brücke hinein auf dem Rink seinen Einzug halten werde, so würde er eine große Niederlage erleiden, weil ihm die Christen aus dem Schlosse herab entgegenziehen und auf dem Markt ihn erlegen würden. Bevor aber solches geschehe, werde zuvor ein ganzer Haufe Kraniche durch die Brotbänke fliegen. – Daß die heidnische Jungfrau zu Glatz diese Sibylle selbst war, scheint denen nicht beigefallen zu sein, die nach ihrem Ursprung und Namen forschten; es ist aber etwas Wundersames um den Zusammenhang des Redens und Sagens von einer Sibylle und deren Weissagung vom Türken im deutschen Volke, denn es gibt der Orte mehrere, von denen gerade die Sibylle geweissagt haben soll, auf ihnen werde der letzte Türke erschlagen werden, unter andern zu Eiba bei Saalfeld in Thüringen, da soll der letzte Türke in einem Backofen verbrannt werden, wie im Werratale, wo auf der Borchfelder Brücke der letzte Sultan enden soll. Auch im Vogtland, am Rhein und anderorts ist diese Sage lebendig. Zu Bamberg geht die Weissagung, die Türken würden ihre Pferde noch aus dem Rhein saufen lassen, wo Gott vor sei! Auch in Schwaben ist eine Sibyllenhöhle.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 439.
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