727. Die Nixe aus der Totenlache

[478] Nahe bei Rappelsdorf zwischen Schleusingen und Kloster Veßra liegt ein der Sage nach unergründlich tiefes, mit Wasser gefülltes Loch, über vierhundert Schuh lang und gegen hundert Schuh breit, merkwürdig und verrufen beim Volk der ganzen Umgegend und die Totenlache genannt. Dieser[478] Name rührt ursprünglich daher, daß die in Rappelsdorf Verstorbenen, welche in Schleusingen beerdigt werden, gewöhnlich bis an diese Lache mit Leichenbegleitung getragen, dann aber ohne ferneren Kondukt nach der Stadt gefahren werden. Das Wasser ist außerordentlich hell und klar, friert niemals ganz zu, steht in unterirdischer Verbindung mit Höhlen und Klüften des nahen Berges, die Haard genannt, besonders mit einem Brunnen im Bärengraben, wie durch dort hineingeworfene leichte Körper, welche in der Lache zum Vorschein gekommen, erforscht sein soll, und wird auch von Jahr zu Jahr größer. Alte Leute haben erzählt, daß kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg und besonders vor dem kroatischen Einfall in Schleusingen Wassermenschen aus der Lache hervorgegangen und unterschiedlich gesehen worden sind.

Einstmals geschah es, daß aus der Totenlache eine Nixe herauskam, anzusehen wie ein junges schlankes Mägdlein; um den Hals trug sie ein schwarzes Nüsterband, um den Leib ein schuppiges Mieder, so seegrün wie das Wasser der Lache, mit einem roten Busentuch und vorgestecktem Perlenstrauß. Um die Lenden schlang sich ein scharlachroter Schurz, hintennach schleifte sie aber einen häßlichen Fischschwanz. Auf der Hudelburg oder Ruderburg, einem Wirtshaus ohnweit Rappelsdorf, wurde soeben ein Hochzeittanz gehalten, dorthin eilte flugs das Nixlein, setzte sich hinter den Tisch zu einem frischen Junggesellen, der lange Frieder geheißen, und trieb mancherlei Kurzweil mit ihm, der sie bald liebgewann, tanzte auch fröhlich mit ihm um die Linde. Dabei vertraute sie ihm manches, unter andern auch, daß sie gar zu gerne seine Braut wäre, und herzte und küßte ihn. Darüber kam der Abend herbei und die Nacht, und nun sprach das Nixchen weinend zu ihrem Friedel: Nun muß ich mich von dir scheiden und wieder in jenes Wasser hineingehen, wo ich wohne. Zu lange bin ich schon hier geblieben bei dir, mein Geliebter, und da ich gegen meines Vaters Gebot hierhergekommen bin, werde ich wohl die hier und mit dir genossene Lust mit dem Leben büßen müssen. Wie weh tut mir der Abschied. Lebe wohl und gehe morgen hin zur Lache, findest du sie hell und grün, so lebe ich, findest du sie bleich und totenfarb, so ist's vorbei mit mir. Und gab ihm einen Kuß und entwich. Am andern Morgen ging der Frieder eilend hin zu dem kleinen See, fand ihn bleich und blutig, und voll Sehnsucht und Liebesgram sprang er hinein in die Totenlache, um sich durch den Tod mit der lieben Nixe zu vereinen.

Nicht weit unter Rappelsdorf, links am Wege, liegt auch noch ein kleiner See, im Sommer von Mümmelchen überblüht, dabei es nicht geheuer.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 478-479.
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