752. Die Tulipane

[493] Auf dem beraseten Burghof des ringsum bewaldeten Krainbergs hütete einst ein Schäfer und fand an einer sichern Stelle eine schöne Tulipane. Das dünkte ihm wunderbar, solche Blume hier zu finden, pflückte sie ab und steckte sie auf seinen Hut. Das hatte er kaum getan, so stand ein bildschönes, aber sehr[493] blasses Jungfräulein vor ihm da und winkte, mit ihm zu gehen; er bedachte sich auch nicht lange, sondern folgte, und die Gestalt führte ihn an das alte Schloß, wo eine Öffnung ins Gemäuer führte, die der Schäfer früher nicht gesehen hatte. Es ging tief hinab in eine geräumige Halle, da stand Goldes genug umher, und das Fräulein gebot ihm, sich davon so viel zu nehmen, als er wolle und tragen könne. Seine Taschen hatten aber alle Löcher, so daß wieder hindurchfiel, was er hineinsteckte; da nahm er seinen Hut und füllte den voll, darüber fiel die Blume herab, und es geschah, was stets erzählt wird, wo Ähnliches sich soll begeben haben, das Jungfräulein bat beweglich: Vergiß das Beste nicht – aber der Jäger achtete der Blume keinen Deut, da er des Goldes so viel hatte; als er jedoch wieder aus dem Kellergewölbe heraustrat, schlug eine eiserne Türe, die er erst gar nicht gesehen hatte, hinter ihm mit Heftigkeit zu, und alle sein Gold verschwand. Darüber ist er so heftig erschrocken, daß ihm eine große Schwachheit ankam, und nach drei Tagen ist er tot gewesen.

Selten erwähnt die örtliche Sage, wo sie der Wunderblume gedenkt, einer Tulipane, fast immer ist es eine gelbe Schlüsselblume, eine blaue Glockenblume oder eine weiße, auch purpurrote Lilie.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 493-494.
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