827. Das Kirschbäumchen auf Burg Raueneck

[542] Von den Trümmern des alten Bergschlosses Raueneck in Franken geht eine ganz gleiche Sage wie von dem gleichnamigen Schloß bei Baden in Österreich. Es liegt dort noch ein großer Schatz vergraben, den bewacht ein ruheloser Geist, der ängstlich auf Erlösung hofft. Aber wer kann und soll diesen Schatz wohl heben und den Geist erlösen? Auf der Mauer steht ein Kirschbäumchen; das wird einst ein Baum werden, und der Baum wird abgehauen und daraus eine Wiege gemacht. Wer nun in dieser Wiege als ein Sonntagskind geschaukelt wird, wird erwachsen, aber nur, wenn er rein und jungfräulich geblieben, in einer Mittagsstunde den Geist befreien und den Schatz heben und über alle Maßen reich werden, so daß er die Burg Raueneck und alle zerstörten Burgen in der Nähe wieder aufbauen kann. Wenn das Bäumchen verdorrt oder ein Sturm es bricht, dann muß der Geist wieder harren, bis abermals ein durch einen Vogel auf die hohe Mauer getragener Kirschkern aufkeimt und aufgrünt und vielleicht zum Baume wird. Da mag sich wohl das Sprüchwort erfüllen: Harren ist langweilig, macht aber weise. Auch diese Sage hat noch an andern Orten ihren Widerhall, wie unter andern dort bei Auerbach, wo an die Erlösung der Wiesenjungfrau die gleiche Bedingung geknüpft ward.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 542.
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