890. Grab der Jungfrau

[577] Unter der Burg Hornberg, die einstens auch dem braven Ritter Götz von Berlichingen gehörte und nun der Freiherren von Gemmingen-Guttenberg Eigentum ist, wird eine Felsengrotte gezeigt, in welche vorzeiten eine Jungfrau flüchtete, die von ihrer Stiefmutter hart gequält wurde. Sieben Jahre wohnte und lebte die Maid in dieser Grotte, und eine Hirschkuh war ihre Ernährerin, gleich jener der frommen Genofeva. Als die Jungfrau gestorben war, trug die treue Hinde sie nach dem Michaelskirchlein in der Nähe des Dörfchens Wolkenhausen und fand sie alldort ihr Begräbnis, zu dem geschahen dann Wallfahrten. Andere erzählen diese Sage anders. Ein Heidenjüngling liebte eine Christenjungfrau, und als es derselben nicht gelang, ihn für den Christenglauben zu gewinnen, flüchtete sie in die Einöde und beschloß in dieser Grotte ihr Leben in gottseliger Einsamkeit, wo eine Hinde sie ernährte und ein Hirsch sie trug. Sie schrieb ihr Geschick in die Rinden der Bäume, und als sie verblichen war, schaufelte ihr der Hirsch ein Grab. Nach einer Zeit verfolgte jener Heidenjüngling dieses edle Wild, und der Hirsch floh nach dem Grabe der Jungfrau. Da las der Jüngling an den Bäumen das Los seiner Geliebten, tat des Heidentums sich ab, erbaute sich, nachdem er sich taufen lassen, eine Einsiedlerzelle am Grabe der Jungfrau und diente ausschließlich dem Herrn mit Gebet und frommen Werken. Da er alt und schwach geworden, trat eines Abends ein Pilger zu ihm und bat um Aufnahme, welche der fromme Mann gern gewährte und dann sein Gebet fortsetzte. Da verwandelte sich der Pilger in die Gestalt Michaels, des heiligen Erzengels, und sprach: Du hast Satan überwunden gleich mir, gehe ein zum Reiche der Herrlichkeit und des Friedens! Und da küßte der Engel dem Alten das Leben von der Lippe. Danach wurde alldort die Sankt Michaels-Kirche begründet.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 577.
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