6.

[344] Die Löwenmaske aus schwarzem Granit,

Die du mir heute geschenkt hast,

Mißbrauch ich zum Tintenfaß.

Ehemals spie sie,

Es sind gewiß vier Jahrhunderte her

(Weshalb Marzocco nicht mehr ganz komplett ist),

Aus diesem rundgeöffneten Maule

Wasser, wer weiß wo, in ein weißes Becken.

Das stand gewiß in einem schönen Garten,

Und manchmal kam Madonna Gemma

Und hielt die weißen, heißen Hände unter[344]

Und summte sich ein Lied zum Zeitvertreib:

... Im Lorbeerbaum hat die Amsel ihr Nest,

– Singe, Verliebte, singe –

Ich weiß ein Herz, das mich nie verläßt ...

Nun ist der schwarze Löwenkopf

Voll schwarzer Tinte, und kein Lied

Erfreut ihn mehr aus schönem Mund.

Aber:

Wenn er gut hinsieht mit seinen zwei schiefen,

Dreieckigen Augen, kann er lesen,

Was für untoskanische Verse ein Deutscher

Für die allerschönste Toskanerin macht.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 344-345.
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