35. Dreikönigsbrödlein.

[16] Schwäb. Merkur 1861. 10. Jan. S. 53 c.


Vaihingen, den 6. Jan. Eine uralte Gewohnheit[16] seltener Art hat mit dem heutigen Tage aufgehört. Alljährlich am Erscheinungsfeste wurde nämlich auf Rechnung der Stiftungskasse jedem hiesigen Einwohner ein Kreuzerwecken verabfolgt. Es war dies nicht etwa eine blos den Armen zu Gute kommende Wohlthat, sondern, wie gesagt, jeder Einwohner ohne Unterschied des Alters oder Geschlechts, Dienstboten eingerechnet, ja sogar bloße Durchreisende, mochten sie sich auch nur eine Stunde hier aufhalten, hatten Anspruch darauf, und es wurde auch davon der allgemeinste Gebrauch gemacht. Schon Morgens früh konnte man das Rathaus von Aspiranten belagert sehen, um die Gabe in Empfang zu nehmen. Hiebei wurde in so liberaler Weise verfahren, daß meistens über 4000 Wecken, also weiter, als die Zahl der hiesigen Einwohner beträgt (3400), zur Vertheilung kamen. Diese Brodabgabe beruht wahrscheinlich auf einer Stiftung und wird auch in einer vom Ende des 17. Jahrhunderts datirenden Urkunde so genannt. Da jedoch die Stiftungsurkunde bei einem in dem genannten Jahrhundert stattgehabten Brande verloren ging und nichts Näheres mehr über die Stiftung, nicht einmal die Größe des Kapitals bekannt ist, jedenfalls aber die Mittel der Stiftungspflege eine zweckmäßigere Verwendung finden können, so beschloß der Stiftungsrath, die Brodabgabe von nun an für immer aufhören zu lassen, und so fand dieselbe nach wahrscheinlich mehrhundertjährigem Bestehen heuer ihr Ende.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 16-17.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sitten und Gebräuche
Sitten und Gebräuche