Sechster Auftritt.

[25] SANG. Ihr habt Euren Glauben verloren? – – Mein Sohn? – – Du hast Deinen Glauben verloren?

HANNA. Seht nur Klara! Aber Klara?

SANG eilt zu ihr. Berührt sie mit seinen beiden Händen. Es hört schon auf. Es war weiter nichts – Gott sei Dank!

KLARA. Es geht ... schon ... vorüber. – – Aber halt' Du mich!

SANG. Ich werde Dich halten.

KLARA. Und gebt acht – sonst muß ich weinen! Oh! –

SANG. Nein, nein. Nicht weinen! Er neigt sich ganz über sie und küßt sie. Nun sei stark! – Klara! – – So! Du sollst nicht traurig sein. Du sollst bedenken, wie traurig sie gewesen sind. Sie wollten uns schonen[25] in ihrem Schmerz und Kampf. Wir wollen sie doch auch schonen!

KLARA. Ja!

SANG. Sieh, deshalb bekamst Du diesen Anfall. Wir sollten nachdenklich werden. Sonst wären wir vielleicht bitter gegen sie geworden. Besonders ich in meinem Eifer. Wo ist Rahel?

HANNA. Sie kommt gleich. Sie ist mit Elias bis Mitternacht aufgewesen.

SANG. Die Kinder! Die Kinder! – Wie konntet Ihr – –? – – Nein, nein! Ich will's nicht wissen. – – – Du warst immer ehrlich. – Hast Du's getan, so mußtest Du.

ELIAS. Ich mußte. Aber entsetzlich ist es gewesen.

SANG. Du kamst gar wohlfeil zu Deinem Glauben hier bei mir. Ich bin ja nur ein Gefühlsmensch. Vielleicht ist dies das Tor zu einem Glauben, der unverlierbar ist.

ELIAS. Ich komme mir wie ein Verbrecher vor; – aber ich bin es nicht.

SANG. Meinst Du, ich zweifelte auch nur einen Augenblick daran, mein Sohn? Laß Dich's nicht anfechten, wenn ich übers Ziel schieße. Das kommt daher, daß ich mich so sehr an den Gedanken gewöhnt hatte, Ihr glaubtet. – Es wird noch eine Weile dauern, bis ich ... Nein, nein, nein! Vergib mir, Elias. Du kannst ja nichts dafür. Rahel tritt ein. Sie weicht scheu einige Schritte nach dem Hintergrund zurück. Sang erblickt sie. Rahel! – Du, meine Rahel! Sie kommt näher und sinkt in die Knie. Von Kind auf hast Du gelernt, Deinem Vater mehr zu glauben als allen Büchern. – – Wie war's nur möglich. Nein, – haben sie meine Tochter gefügig gemacht, so muß ich auch wissen, wie das ... – Denn daß Dich einer mir entfremden konnte, das ...

RAHEL. Nicht Dir, Vater!

SANG. Verzeihung! Oh, – ich wollte Dich nicht verletzen. – Komm her zu mir! Sie fällt ihm um den Hals. Ich gelobe Euch, meine Kinder, fortan soll nicht mehr[26] davon die Rede sein. Aber erst muß ich wissen – das darf Euch nicht Wunder nehmen –, wissen, wie es zugegangen ist.

ELIAS. Und wenn Du Tage und Tage mit mir darüber sprechen wolltest – ich würde doch damit nicht fertig werden.

SANG. Nein, dazu bin ich unfähig. Ich kann nicht über den Glauben disputieren. So etwas liegt mir nicht.

ELIAS. Aber anhören solltest Du mich doch –.

SANG. Wenn Dir das eine Beruhigung ist – dann meinetwegen. Dann will ich – das weißt Du ja. – – Aber kannst Du mir's nicht kurz sagen, – ganz kurz? – – Was war's also, das Euch bewogen – das Euch bestimmt hat, Kinder ...?

ELIAS. Ich kann mich sehr kurz fassen. Rahel und ich, wir fanden nicht, daß die Christen so sind, wie Du uns gelehrt hast.

SANG. Aber, Kinder –

ELIAS. Du hattest uns zu den besten gesandt, die Du kanntest. Und das waren gewiß auch die besten. Aber Rahel und ich waren uns bald darüber einig – und sie war es, die das zuerst aussprach –: es gibt nur einen Christen, und das ist Vater.

SANG. Aber, Kinder – Kinder!

ELIAS. Hätt' es sich dabei nur um ein Weniger oder Mehr gehandelt von dem, was Du unter Christentum verstehst, – ja, dann wären wir nicht enttäuscht gewesen. Aber es war etwas ganz anderes – so ganz Verschiedenes.

SANG. Wieso?

ELIAS. Ihr Christentum ist Konvention. – – In Leben und Lehre ordnen sie sich dem Bestehenden unter, – dem örtlich wie zeitlich Bestehenden. Den Institutionen, den Gewohnheiten, den Vorurteilen, den ökonomischen Verhältnissen und allen anderen Verhältnissen. – Die Lehre haben sie so lange gewendet und umgebogen, bis sie in die bestehenden Dinge hineinpaßte.

SANG. Ist das nicht ein bißchen streng?[27]

ELIAS. Du aber hast von der Lehre die idealste Auffassung, und sie ist die Richtschnur Deines Handelns. – Das ist der Unterschied.

SANG. Aber was geht dieser Unterschied Euch an, liebe Kinder?

ELIAS. Er führte uns zum Nachdenken, Vater. – Wundert Dich das?

SANG. Denken könnt Ihr, so viel Ihr wollt. – Nur richten sollt Ihr nicht.

RAHEL. Uns ist nicht bewußt, dies getan zu haben. Und weißt Du, warum? Weil wir sahen, daß ihre Lehre etwas ebenso Natürliches für sie war, als es Deine Lehre für Dich ist.

SANG. Nun ja –

ELIAS. Was ist denn nun Christentum? Ihres ist doch wohl keins?

SANG. Gesetzt, es wäre keins? Was ist denn weiter Schlimmes dabei? Wenn sie handeln, wie sie's verstehen?

RAHEL. Ist denn Christentum etwas, dem nur einer von Millionen genügen kann, lieber Vater?

ELIAS. Und die anderen alle sollen verpfuschte Christen sein?

SANG. Was nennst Du einen Christen?

ELIAS. Nur den nenn' ich einen Christen, der von Jesu das Geheimnis der Vollkommenheit gelernt hat und es in allen Dingen anstrebt.

SANG. Ich finde sie reizend, diese Erklärung! Du hast etwas vom Feinsinn Deiner Mutter. – Ach, es war immer der Traum meines Lebens, Dich einmal ... Nein, nein, nein! – Ich hab' es Euch versprochen, Kinder ... und werd' es halten. – Du sagtest –? Das ist wahr! Vortrefflich! – – Aber, mein Sohn, soll denn nicht ein jeder Mensch versuchen dürfen, ein Christ zu werden, ohne daß man ihn deshalb Pfuscher zu nennen braucht? Was? Und liegt hier nicht die schöpferische Macht des Glaubens? Auf der einen Seite das Verdienst des einen – auf der andern die Schwachheit von Millionen?[28]

ELIAS. Da sprichst Du's aus! Aus tiefster Seele streben, – das ist die schöpferische Macht des Glaubens.

SANG. Nun ja –?

ELIAS. Doch in der Praxis tut das nur ein einziger Mensch, – und das bist Du. Die andern ... Sei unbesorgt. Nicht um sie anzuklagen, sag' ich das. Dazu hätt' ich auch kein Recht. Die andern – entweder lassen sie sich so viel abdingen, daß sie's in Seelenruhe abwarten können; und es paßt ihnen auch ganz in den Kram. Oder aber sie machen wirklich einen Versuch – und verrenken sich etwas! Ja, das ist das Wort.

RAHEL. Ja, das ist das Wort. – – Und da, lieber Vater, habe ich zu Elias gesprochen: Wenn diese Ideale so wenig den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen von heut entsprechen, so können sie doch wohl nicht von dem Allwissenden sein.

SANG. Das hast Du gesagt – – –?

ELIAS. Rahels Zweifel konnten wir nicht mehr los werden. Und so machten wir uns an die Arbeit und suchten. Wir gingen diesen Idealen nach bis tief zurück in die Geschichte – und kamen hinaus über unsere Zeitrechnung.

RAHEL. Diese Ideale sind alle miteinander viel älter als das Christentum, Vater?!

SANG. Das weiß ich, Kinder.

ELIAS. Viel früher schon haben Schwarmgeister sie verkündet ...

SANG. ...morgenländische und griechische Schwarmgeister in verzweifelter Zeit; zu einer Zeit, da die Besten fortstrebten – fort, nur fort – nach einem Lande der Erneuerung! Ich kenne das, liebe Kinder. – – An diesem Punkt also seid Ihr gestrauchelt? Himmlischer Vater! – – Als ob der Erneuerung Reich, das tausendjährige Reich darum minder wahr sei, weil es ein alter, uralt ewiger Traum des Ostens ist? – Hat dieses Reich so lange auf sich warten lassen, daß sich schon schwache Seelen finden, die es einen unmöglichen Traum – und die Sehnsucht, dahin zu gelangen, unmögliche Ideale[29] nennen, ... was will das beweisen? – – Nichts über die Lehre, doch viel über ihre Verkündiger. Oh ja, – viel über ihre Verkündiger ... Sie will ich aus dem Spiel lassen – ich will nur sagen, wie es mir ergangen ist. Ich sah, wie das Christentum auf dem Bauche kroch – und sogar die kleinsten Gipfel vorsichtig umging. Warum tut es das? fragte ich mich. Etwa darum, weil es fürchtet, die Dinge dieser Welt aus den Angeln zu heben, wenn es sich ganz emporrecke? Ist das Christentum unmöglich, oder sind es die Menschen mit ihrem Kleinmut? – Wenn nur einer den Mut hätte – so hätten vielleicht Tausende den Mut. Und mein Gefühl sagte mir: versuch's, dieser eine zu sein. Und ich meine, das sollte jeder versuchen. Ja, sonst ist er kein Gläubiger. – Denn glauben, das heißt: wissen, daß für den Glauben kein Ding unmöglich ist, – und so den Glauben bestätigen! – – Sag' ich dies, um mich zu brüsten, – nein, vielmehr um mich anzuklagen. Denn obschon ich nun so hoch gebaut habe und mich mit so reicher Gnade belohnt sehe, so falle ich hinwiederum doch auch – eben jetzt – von Gott ab. – Denn bin ich nicht hier herumgegangen und habe es für unmöglich gehalten, allein sie zu retten? Habe ich nicht gezweifelt und der Hilfe anderer geharrt? – Deshalb nahm Gott die Hilfe von mir. Deshalb sah er's mit an, wie Ihr über »das Unmögliche« straucheltet und kamet und mir's erzähltet. Denn so sollte seine Stunde sich vorbereiten. Jetzt will er uns allen zeigen, was möglich ist! – – Ach, – und ich war blind und verstand ihn nicht. Jetzt verstehe ich. Ich soll es allein tun! Jetzt ist der Ruf an mich ergangen; jetzt hab' ich die Kraft. – Darum heut das Gnadengeschenk der großen Vorbereitung. Alles kommt zusammen. – Klara, hörst Du es? Ich bin's nicht mehr, der spricht; die Macht der Gläubigkeit spricht in mir, – und Du weißt, von wem die jedesmal kommt! Kniet vor ihr nieder. – Klara, Du mein edler Freund, warum solltest Du Gott nicht ebenso lieb sein, wie ein anderer, der in tiefster Seele[30] glaubt? Als wäre Gott nicht unser aller Vater? – Gottes Liebe ist nicht das Vorrecht der Gläubigen. Das Vorrecht der Gläubigen ist, seine Liebe zu fühlen und sich ihrer zu freuen – und namens dieser Liebe das Unmögliche möglich zu machen. – Du Geduldige, Du Treue! Jetzt verlasse ich Dich, um es zu erproben. – Steht auf. Ja! Um es zu erproben. Jetzt geh' ich in die Kirche, Kinder – allein will ich mit mir sein. Und ich verlasse die Kirche nicht eher wieder, als bis ich aus Gottes Händen Schlaf für die Mutter und nach dem Schlaf ihre Gesundheit empfangen habe, so daß sie aufstehen und unter uns wandeln kann. – Fürchtet Euch nicht! Ich fühle, Gott will! Er schenkt es mir nicht sogleich; denn diesmal hab' ich gezweifelt. Doch werde ich ausharren und des strengen, des guten Herrn warten. – Lebt wohl! – Er wirft sich zu kurzem Gebet über ihre Lagerstatt. Lebt wohl! – Küßt Klara, die unbeweglich liegt. Er steht auf. Ich danke Euch, meine Kinder! Jetzt habt Ihr mir doch geholfen –, und ergiebiger, als jemand hätte ahnen können. – Nun läut' ich selbst mein Gebet ein. Beim ersten Glockenton also wißt Ihr, daß mein Gebet für die Mutter begonnen hat. Friede sei mit Euch!

HANNA hat ihm unwillkürlich die Tür geöffnet. Sang geht ab. Das ... das ist ... Bricht in Tränen aus.

ELIAS. Ich muß sehen ... ich muß sehen, wie er hineingeht. Ab.

RAHEL vortretend. Mutter! – Oh Mutter!

HANNA. Sprich nicht! Sie sieht Dich wohl, – aber sprich nicht mit ihr!

RAHEL. Mir ist so angst!

HANNA. Von hier aus kann ich Deinen Vater sehen. Jetzt ist er bald an der Kirche. – Komm!

RAHEL. Nein! ... Nein, ich halt's nicht aus. Mir ist so angst. – Mutter! Sie blickt mich an, aber sie antwortet mir nicht. – Mutter!

HANNA. Still, Rahel! Es beginnt zu läuten.

RAHEL sinkt in die Knie; nach einer Weile bricht sie, doch gedämpften Lauts, in die Worte aus. Gott, Hanna![31]

HANNA. Was ist?

RAHEL. Mutter schläft!

HANNA. Sie schläft?

RAHEL. Mutter schläft!

HANNA. Wahrhaftig ...?

RAHEL. Ich will Elias suchen. Das muß ich Elias sagen! Ab.

HANNA. Sie schläft wie ein Kind. O Gott! Kniet.


Da hört man ein Donnergetöse, andauernd, stärker und immer stärker; es wächst furchtbar. Draußen Geschrei. Das Haus kracht in allen Fugen. Das Getöse schwillt.


RAHEL von draußen. Der Berg stürzt ein! Eilt mit einem Schrei herein. Der Berg begräbt die Kirche! Begräbt uns alle! Er rollt auf die Kirche zu! Auf uns zu! Auf Vater, auf uns! Es dröhnt und es raucht – und die Sonne verfinstert sich, – oh! Duckt sich nieder und wendet ihr Gesicht ab.

ELIAS draußen. Vater! – Vater! – Oh!

HANNA überm Bett der Schwester. Jetzt kommt's! Jetzt kommt's!


Das Getöse hat seinen Höhepunkt erreicht. Nun nimmt es allmählich ab. Man vernimmt über dem Getöse wieder die Kirchenglocke.


HANNA springt auf. Es läutet noch! Er lebt!

RAHEL. Er lebt!

ELIAS draußen. Vater lebt! Näher. Die Kirche ist stehen geblieben. Knapp vor der Kirche bog die Steinflut ab, – und ging links hinunter. Er lebt, er läutet, o Gott! Wirft sich über das Bett der Mutter.

RAHEL kommt. Elias! Mutter –?

HANNA. Sie schläft!

ELIAS springt auf. Schläft?

RAHEL. Ja, sie schläft – Die Kirchenglocke tönt.

HANNA. So ruhig schläft sie ...

Quelle:
Björnson, Björnstjerne: Gesammelte Werke. Berlin [1911], Band 5, S. 25-32.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon