Fünfte Szene

[20] Giesecke – Charlotte – Ottilie.


OTTILIE aus dem Hause kommend. Das ist ja aber himmlisch da oben! Diese Aussicht vom Balkon, die mußt du sehen, Papa.

GIESECKE. Ja, ja, nachher! Sieht die Briefe durch.

CHARLOTTE ist mit Ottilie aus dem Hause gekommen. Willst du nicht auch eine Kleinigkeit essen, Ottilie?[20]

OTTILIE. Nein! Erst muß ich an den See hinunter. Ich nehme mir ein Boot und fahre ein bißchen hinaus! Ab links in das Haus.

GIESECKE nachdem er die Briefe gemustert hat, wütend. Da hört doch aber alles auf!

CHARLOTTE. Hast du Ärger gehabt, lieber Wilhelm?

GIESECKE. Die gleichgültigsten Briefe finde ich hier vor, und der einzige, auf den ich mit Ungeduld warte, ist nicht da. Herr Sülzheimer in Sangershausen läßt mich erst zappeln.

CHARLOTTE. Vielleicht hat er keine Zeit gehabt!

GIESECKE. Was kann einer in Sangerhausen schon zu tun haben? Nein ... die Sache liegt anders. Wahrscheinlich hat er erst seinen Rechtsanwalt um Erlaubnis gefragt, den Herrn Doktor Siedler. Ich sage dir, was dieser Doktor Siedler mich die letzten Jahre geärgert hat, – wenn der überhaupt nicht dazwischen getreten wäre, – zwischen Sülzheimer und mich ...

CHARLOTTE. Ich denke, Ihr wart immer gute Geschäftsfreunde?

GIESECKE. Waren wir auch! Bis ich für meine Petroleumlampen den neuen Jlühstrumpf in den Handel brachte. Du kennst ihn ja!

CHARLOTTE. Der ist doch aber sehr schön!

GIESECKE. Die Sonne scheint nicht so hell! Da auf einmal kommt Herr Sülzheimer aus Sangershausen und behauptet, es wäre eine Nachahmung von seinen Jlühstrumpfen. Ich hätte sein Patent verletzt, und der Doktor Siedler ruht nicht eher, als bis es zum Prozeß gekommen ist! Und jetzt ging ein Krakehl los vor den Richtern und vor den Sachverständigen und in Zeitungsannoncen ... Der Kampf um die beiden Jlühstrümpfe wurde schließlich zum Stadtgespräch ... Coupletstrophen haben sie auf mir gesungen! ... Ich sage dir, keine Nacht habe ich mehr ruhig schlafen können. Die Strümpfe vom alten Sülzheimer haben mir wie ein Alp auf der Brust gelegen ... bis ich endlich den Richtern haarscharf bewiesen habe, daß ich im Recht bin.

CHARLOTTE. Nun und dann? –

GIESECKE. Und dann – dann habe ich den Prozeß in erster Instanz verloren.

CHARLOTTE. Aber es gibt doch noch eine zweite, eine dritte Instanz.

GIESECKE. Und du denkst, darauf werde ich mich noch einlassen? Mich wieder mit den Rechtsanwälten herumärgern? Ich denke nicht dran! Ich sage dir, wenn sich einer erst mit einem Rechtsanwalt einläßt, ist er überhaupt schon verloren! Die Brüder können alle nichts![21]

CHARLOTTE. Ja, aber weißt du, der von deinem Gegner, der Doktor Siedler, muß doch seine Sache ganz gut gemacht haben!

GIESECKE. Das ist's ja eben! Ist einmal ein tüchtiger Rechtsanwalt da – dann hat ihn der andere! ... Nein, auf die Brücke gehe ich nicht mehr. Ich muß endlich Ruhe haben vor dem Herrn Doktor Siedler, und darum habe ich meinem Gegner einen Einigungsvorschlag gemacht, bei dem du mir sogar helfen kannst, liebe Lotte!

CHARLOTTE. Wieso denn ich?

GIESECKE nervös. Na, wart' es doch erst ab! Du siehst doch, ich habe noch keine Antwort! Es fehlt noch die allerhöchste Zustimmung von Herrn Sülzheimer in Sangershausen!

CHARLOTTE. Nein, aber Wilhelm, was du für ein Kribbelkopf geworden bist! ...

GIESECKE. Weiß ich ... ein unausstehlicher Kerl bin ich geworden. Aber wenn einem auch so eine Sache zwischen Fell und Fleisch sitzt ...! Laß mich nur erst den Prozeß aus der Welt schaffen! Paß mal auf, dann werde ich ein ganz anderer Mensch!

CHARLOTTE mit diskretem Spott. Ich glaube, Wilhelm, dabei könntest du nur gewinnen! Ab in das Haus.

GIESECKE ihr nachsehend. Na, so schlimm ist es nun auch nicht!


Quelle:
Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg: Im weißen Rössl. Berlin 16[o.J.], S. 20-22.
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