6.

[147] Es zog ein Reuter wohl über den Rhein,

Der wollte dem König sein Töchterlein frein;

Er konnte so schöne singen,

Daß Berge und Thale erklingen.

Das hörte dem König sein Töchterlein

Dort oben auf ihrem Schlafkämmerlein,

Sie flocht ihre Haare in Seide,

Mit dem Reuter thut sie wegreisen.[147]

»Feinsliebchen nun schnell und schwing dich

Auf meinen Rappen hinter mich.

Wir müssen heute noch reiten

Zweihundert und zwanzig Meilen.«

Und als sie eine Meile geritten hatten,

Da sprach sie, es ist schon wieder Tag.

»Feinsliebchen, wir wollen hüthen

Unser Rößlein und ich bin müde.«

Der Reuter nahm seinen Mantelsack

Und breitet ihn auf das grüne Gras.

»Feinsliebchen, nun sollst du mich lausen,

Deine goldenen Haare, die sausen.«

Er schaute Feinsliebchen wohl unter die Augen.

»Feinsliebchen, warum bist du so traurig?«

»Warum sollt ich nicht traurig sein?

Ich bin ja dem König sein Töchterlein.

Hätte ich meines Vaters Willen gehorchet,

Eine Kaiserin wär ich geworden.

Das aber, das hab ich nun nicht gethan,

Nun muß ich in dem Lande herummer gahn.

Meine Kleider, die muß ich verkaufen,

Das Geld will der Reuter versaufen.«

Sobald Feinsliebchen das Wort aussprach,

Ihr Haupt im grünen Grase lag;

Hier liege, Feinsliebchen, und faule,

Kein Reuter soll über dich trauern.

Er hängt sie an einen Feigenbaum.

Hier häng, Feinsliebchen, und hänge,

Kein Reuter soll an dich gedenken.

Quelle:
Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. München 1910, S. 147-148.
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