[65] 95. An Nanda und Letty Keßler


Lüethorst d. 28 Juni 1871


Meine liebe Nanda und Letty!

Ihr wißt ja wohl! Wo ich auch bin,

Euch beide hab ich stets im Sinn;

Sei's nun zu Frankfurt an dem Maine,

Sei's zu Hannover an der Leine;

's ist ganz egal und einerlei:

Ich denk an die bewußten Zwei!


Jetzt bin ich hier, wie Ihr ja wißt,

Beim Pfarrer, der mein Onkel ist,

In einer wunderschönen Gegend:

Allein es regent, regent, regent! –

Den ganzen Tag von Morgens früh

Trägt jeder Mensch den Paraplü;

Und legt er Abends sich zur Ruh

Und deckt die müden Glieder zu,

So horcht er noch mit stillem Grausen,

Wie draußen Wind und Regen sausen.

»Na! – denkt er dann und dämmert ein –

»'s wird Morgen ja wohl annersch sein!« –

Ja, prost! – Des Morgens in der Früh

Plitschtplatscht es draußen wie noch nie.


Am Dache, oben in der Rinne,

Da saßen Spatzennester drinne,

Und in den Spatzennestern drein

Hört man viel junge Spatzen schrein.

Schisch! Kommt der Regen angegoßen

Daß alle Spatzen weggefloßen

Bis durch das lange Waßerrohr

Und kommen unten dann hervor

Und sausen plidderpladdernaß

In's große Regenwaßerfaß

Und wirbeln drin herum geschwind

Bis daß sie todt und tödter sind.

Die alten Spatzen rings umher

Sehn das mit an und piepsen sehr.


Im Stalle steht auch eine Ziege,

Die konnte früher zur Genüge

Im Grase hupfen froh und frei

Und war auch sehr gesund dabei.

Doch als der viele Regen kam

Und's Hippe nun ein Ende nahm,

Hat sie das Meckern ganz vergeßen

Und steht im Stall und will nicht freßen.

Der Ziegendocter sprach: »Ja, die,

»Die hat ja die Melancholie!

»Ja ja! da ist nicht viel zu Spaßen,

»Die müßen wir zur Ader laßen.«

Der Docter nimmt die Geis beim Ohr

Und zieht das Meßer leis hervor:

»Nun, bitte, halten Sie hübsch still,

»Weil ich sogleich beginnen will,

»Indem ich Ihres Ohres Spitze

»Ein ganz klein, klein, klein wenig ritze!«

Kaum hört dies Wort die Meckerzick,

So zieht sie schnell das Ohr zurück:[65]

Mäh-häh! – Das war ein schöner Schreck,

Denn – ratsch!! – das ganze Ohr ist weck!


Nun, Kinner, schreibt mir aber bald,

Ob's auch bei Euch so naß und kalt,

Und ob Ihr bei der bösen Zeit

Noch kreuzfidel und munter seid.


Grüßt tausend Mal das ganze Haus

Vom Keller bis zum Dach hinaus;

Doch Jede, welche dieses liest,

Sei fünf Milliardenmal gegrüßt!!


vom

Onkel Wilhelm


95. An Nanda und Letty Keßler: Faksimile Seite 1
95. An Nanda und Letty Keßler: Faksimile Seite 1
Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 65-66.
Lizenz:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon