Dritter Gesang

[18] Der Eingang bin ich zu der Stadt der Schmerzen,

Der Eingang bin ich zu den ew'gen Qualen,

Der Eingang bin ich zum verlor'nen Volke.

Gerechtigkeit bestimmte meinen Schöpfer,

Geschaffen ward ich durch die Allmacht Gottes,

Durch höchste Weisheit und durch erste Liebe.

Vor mir entstand nichts, als was ewig währet,

Und ew'ge Dauer ward auch mir beschieden;

Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.

In dunkler Farbe sah ich diese Zeilen

Als einer Pforte Inschrift. Drum begann ich:

O teurer Meister, düster ist ihr Sinn mir. –

Er aber sprach, das rechte wohl erfassend:

Absagen mußt du jeglichem Bedenken

Und jeden Kleinmut hier in dir ertöten.

Gelangt sind wir dahin, wo ich dir sagte,

Du würdest sehn die schmerzerfüllten Scharen,

Die der Erkenntnis hohes Gut verloren. –

Als seine Hand er dann gelegt in meine

Mit heit'rer Miene, die mir Mut gewährte,

Führt' er mich ein in die geheimen Dinge.

Hier tönten Seufzer, Schluchzen, laute Klagen

Erschütternd durch die sternenlose Luft,

So daß zu Anfang ich mitweinen mußte.

Verschiedne Zungen, grauenvolle Sprachen,

Des Schmerzens Worte, zornentbrannte Töne,

Erstickt' und laute Rufe, Schlag der Hände,

Sie bildeten ein wildverworrnes Tosen,

Das in der ewig düstren Luft sich umtreibt,

Wie bei des Wirbelwindes Wehn der Sand tut.

Ich aber, dem das Haupt Entsetzen einnahm,

Begann: Was ist das, Meister, was ich höre,

Und was für Volk, das übermannt vom Schmerz scheint?

Und er zu mir: Solch' jammervolle Weise[19]

Verführen die unwürd'gen Geister deren,

Die ohne Lob gelebt und ohne Schande.

Der Engel schlechter Schar sind sie verbunden,

Die, ohne gegen Gott sich zu empören,

Ihm treu nicht, sondern unparteiisch waren.

Der Himmel Schönheit hätten sie getrübt,

Auch nimmt die tiefre Hölle sie nicht auf,

Weil etwas Ruhm sie den Verdammten brächten. –

Da sprach ich: Meister, was ist denn so quälend

Für sie, daß solche Klagen es hervorruft? –

Und er: Das will ich kürzlich dir berichten:

Der Tod hat Hoffnung ihnen nicht zu bieten,

Und so verächtlich ist ihr blindes Leben,

Daß sie jedwedes andre Los beneiden.

Die Welt gestattet ihnen keinen Nachruhm;

Erbarmen und Gerechtigkeit verschmäht sie.

Kein Wort von ihnen; schau, und geh vorüber. –

Ich blickte hin: Da sah ich eine Fahne,

Die so geschwind umkreisend sich bewegte,

Daß zu verschmähn sie mir jedwede Rast schien.

Und hinterdrein lief solch endloser Haufen

Von Volke, daß ich nimmermehr vermutet,

So viele habe schon der Tod vernichtet.

Und als erkannt ich hatte den und jenen,

Erblickt' und kannte ich den Schatten dessen,

Den Feigheit zum Verzicht, dem großen, antrieb.

Sofort ward ich bewußt mir und versichert,

Dies sei die Schar der schmachbeladenen Seelen,

Die Gott und seinen Feinden gleich mißliebig.

Die Elenden, die nimmer wahrhaft lebten,

Sie waren nackt und wurden schwer gepeinigt

Von Bremsen und von Wespen, die dort waren.

Bei deren Stichen troff von Blut ihr Antlitz,

Das tränenuntermischt zu ihren Füßen

Von ekelhaften Würmern ward verschlungen.

Und als ich weiter noch den Blick entsandte,[20]

Sah Schatten ich am Ufer eines Stromes;

Weshalb ich sprach: Gewähre mir nun, Meister,

Daß, wer sie sind, ich hör', und welcher Antrieb

Sie scheinbar so zur Überfahrt geneigt macht,

Wie in dem falben Licht ich unterscheide. –

Erfahren wirst du, sagt' er, was du fragest

Sobald wir hemmen werden unsre Schritte

Am Uferrand des traur'gen Acheron. –

Da senkte schamerfüllt ich meine Blicke

Und, fürchtend, daß ihm lästig sei mein Reden,

Enthielt ich bis zum Flusse mich der Worte.

Und, sieh', im Nachen kam herangefahren

Ein Greis, der ob des Haares Alter weiß war,

Und ausrief: Weh euch, ihr verruchten Seelen!

Den Himmel hoffet nimmermehr zu schauen.

An's andre Ufer komm' ich euch zu führen

In ew'ge Finsternis, in Frost und Hitze.

Und, die du dort verweilst, lebend'ge Seele

Entferne dich von diesen, die gestorben. –

Und als er sah, daß ich mich nicht entfernte,

Sprach er: Nicht hier, durch andre Weg' und Häfen

Wirst du zum Strand der Überfahrt gelangen;

Das Schiff, das einst dich tragen soll, ist leichter. –

Mein Führer aber sprach: Sei ruhig Charon.

So will man's droben, wo jedwedes Wollen

Zugleich ein Können ist; nicht frage weiter. –

Da glätteten sich die behaarten Wangen

Des Fährmann's auf dem trübgefärbten Sumpfe,

Der um die Augen Flammenräder hatte.

Doch jene Seelen, nackend und ermattet,

Verfärbten sich und klappten mit den Zähnen,

Sobald die harten Worte sie vernahmen.

Sie fluchten Gott und fluchten ihren Eltern,

Der Menschenbrut, dem Ort, dem Tag, dem Samen,

Durch die gezeugt sie wurden und geboren.

Dann drängten sie sich unter lautem Weinen[21]

In dichten Scharen an das schlimme Ufer,

Das jedes wartet, welcher Gott nicht fürchtet.

Mit feur'gen Augen sammelt Teufel Charon

Gebieterischen Wink's die Seelen alle,

Schlägt mit dem Ruder jeden, der da zaudert.

Gleichwie zur Herbsteszeit die Blätter alle,

Eins nach dem andern abfall'n, bis der Zweig

Am Boden alles sieht, das ihn bekleidet,

So stürzt hier Adam's schuldbeladener Samen

Sich Haupt für Haupt vom Ufer in den Nachen,

Wie Vögel tun, wenn sie den Lockruf hören.

Hinüber fahren sie auf dunkler Flut,

Und eh' dem Kahne drüben sie entstiegen,

Hat diesseits schon sich neue Schar gesammelt.

Mein Sohn, begann zu mir der güt'ge Meister,

Die unter Gottes Zorne sterben, alle

Versammeln hier sich aus jedwedem Lande.

Auch ist zur Überfahrt bereit ein jeder;

Die göttliche Gerechtigkeit ist ihnen Sporn,

So daß die Furcht sich wandelt in Verlangen.

Nie fuhr noch fährt ein Guter hier hinüber!

Darum, wenn Charon scheltend dich zurückweist,

Verstehst du nun den Sinn von seinen Worten. –

Darauf erzitterte die düstre Fläche

So heftig, daß noch itzt in der Erinn'rung

Mich des Entsetzens Schweiß kalt überrieselt.

Ein Luftstoß drang aus dem betränten Boden,

Worin ein roter Lichtesglanz erblitzte.

Darob entschwand mir jegliches Bewußtsein,

Und nieder sank ich, wie wen Schlaf ergriffen.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 18-22.
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