Fünfunddreißigster Abschnitt.

[272] Aufenthalt in Siberien.


Schon nahete sich mit starkem Schritte, obwohl erst zu Anfang des Septembers 1708, der siberische Winter, fühlbarer noch für Menschen, die, wie wir, aus Ostindien kamen. Freilich hatten wir einige Zeit im nördlichen China verlebt, wo das Klima weniger heiß, oft sogar rauh ist, aber dem ungeachtet hatte die tropische Hitze mich den nordischen Gegenden ganz entfremdet. Ich hatte daher, so wenig als Herr Wilson, nicht die geringste Neigung, bei stets zunehmendem Froste die weitere Reise anzutreten. Wir hatten in Moskwa, wohin die Karavane bestimmt war, keine Geschäfte, und wir machten uns von den Sehenswürdigkeiten dieser Kaiserstadt keine besondere Ideen. Zwar rühmte man uns die Leichtigkeit und Schnelligkeit der Art des Reisens im Winter, wo der beschneite Erdboden zu einer glatten Oberfläche wird, über welche die Schlitten sanft hingleiten, und in kurzer Zeit einen ausserordentlich weiten Weg zurücklegen. Daher die Russen lieber im Winter reisen, wo sie mit aller Bequemlichkeit in ihre Schlitten gepackt, Tag und Nacht, während dem sie schlafen, forteilen. Allein das konnte[272] uns wenig Vortheil gewähren; wir hatten nur zwei Wege zu wäh len, um nach England zu kommen, entweder nach Narwa und dem finnischen Meerbusen, oder nach Archangel, und dann von einem dieser Orte über Meer nach Hamburg, nach Holland oder gerade nach England, je nachdem sich eine günstige Gelegenheit darbieten würde. Von allem dem würden wir jetzt keinen Vortheil gezogen haben, denn wenn wir im Oktober Archangel erreicht hätten, so wären alle Schiffe bereits abgesegelt und die Stadt beinahe menschenleer gewesen, und auch auf dem finnischen Meerbusen oder von Riga aus wäre es in dieser Jahreszeit schwierig gewesen, Danzig zu erreichen. Es war daher räthlicher für uns, in Tobolsk zu bleiben, wo wir uns von den Beschwerlichkeiten der bisherigen Reisen erholen, warme Wohnungen miethen, uns mit guten Heizmaterialien versehen, und reichlich Lebensmittel verschaffen konnten. Es ist eine durch die Erfahrung bestätigte Wahrheit, daß man sich in kalten Ländern am besten gegen die Kälte, so wie in heißen gegen die Hitze zu schützen weiß. Ueberdies fanden wir hier vortreffliche Gesellschaft, was freilich manchem Leser unglaublich scheinen wird, aber darum nichts destoweniger vollkommen wahr ist. Eben hier an den beiden Ufern des Ob oder Obi ist die Gegend, in welche die russische Regierung, es sey wirklich schuldige, oder bloß verdächtige, oder auch solche, die ganz unschuldig, aber dem Kaiser oder den Machthabern im Wege stehende Personen, oft vom höchsten Range und den ausgezeichnetsten Verdiensten,[273] in Verbannung schickt, wo sie, wegen der Unmöglichkeit zu entfliehen, in Freiheit leben und nicht mißhandelt werden, wenn sie die ihnen aufgelegten Arbeiten und Abgaben an Zobelpelzen entrichten, es wäre denn, daß sie persönliche, sehr mächtige Feinde am Hofe hätten, deren Einfluß, Rachgier und niederträchtige Verfolgungssucht sich bis in diese Einöde erstreckt. Sonst aber sind nur eigentliche verurtheilte Verbrecher in Fesseln oder in den Bergwerken zu strenger Zwangsarbeit angehalten, die denn aber auch von solcher Art ist, daß sie in wenigen Jahren darunter erliegen. Ueberhaupt haben mich meine Reisen belehrt, daß wir uns in Europa ganz falsche Vorstellungen von andern Nationen machen, und wenn bei diesen ungesitteten Völkern – wie wir sie nennen – weniger Wissenschaften, Kultur und Aufklärung zu finden ist, so ist das weniger aus Mangel an feinen Sitten, gesundem Verstande, wenigern Talenten, als weil sich dies alles auf eine andere Art äussert als in Europa, und Kleidung, Sprachen, Sitten und Gebräuche von den unsrigen so sehr abweichen. Wir bedienen uns, um sie zu beurtheilen, eines falschen Maaßstabes, der großentheils nach unsern Vorurtheilen entworfen ist.

Nach einem Aufenthalte von acht Tagen trat die Karavane die Weiterreise nach Moskwa an. Wir letzten uns am Vorabende des Abzuges mit unsern schottischen Freunden, wobei auch einige Russen und Liefländer sich einfanden; wir nahmen dann herzlichen Abschied und wünschten glückliche Reise.

Ich verlor keine Zeit, mir an Kleidung und Wärmematerialien[274] alles anzuschaffen, um in dem eisigen Landstriche, wo ich den Winter passiren wollte, mich recht warm zu halten, was mir denn auch vortrefflich gelang. Ich hatte eine Menge Peltereien, eine wohlbestellte Tafel, eine gut eingerichtete Wohnung, einen wohlgeschlossenen Schlitten und, ausser meinem Bedienten und dem portugiesischen Alten, noch zwei russische Bedienten, so daß ich die bessere Jahreszeit getrost abwarten konnte. Ich machte mehrere gute Bekanntschaften, sowohl unter den Beamteten der Regierung, als einigen der vorzüglichsten Verbannten, besonders mit dem Prinzen Galitzyn, der vorher Minister des Kaisers gewesen, jetzt aber gar eingezogen doch anständig lebte. Diese Bekanntschaften trugen unendlich viel dazu bei, mir den Winteraufenthalt in Tobolsk angenehm zu machen. Als ich einst bei dem Prinzen Galitzyn den Abend zubrachte, und von der Macht Rußlands die Rede war, erzählte der Prinz gar viel von der uneingeschränkten Gewalt des Kaisers – von der er leider selbst das Opfer war – und rühmte sie besonders im Vergleich mit andern Monarchen. Ich erwiederte ihm hierauf: »Daß eine Zeit gewesen, wo ich ein eben so unbeschränkter Beherrscher gewesen als Se. Majestät, obwohl die Zahl meiner Unterthanen nicht so groß und mein Reich nicht so ausgedehnt gewesen wäre.« Der Prinz sowohl als die übrigen Anwesenden schienen darüber verwundert und neugierig zu seyn, zu vernehmen, was es mit meiner Monarchie für eine Beschaffenheit gehabt habe? »Ihre Verwunderung – versetzte ich – wird noch zunehmen, wenn ich versichere,[275] daß ich über Leib und Leben und Eigenthum meiner Untergebenen nach Belieben verfügen konnte und wirklich verfügte, und daß ungeachtet meines Despotism in meinem Staate Niemand gewesen, der mich nicht aufrichtig geliebt hätte und mir ergeben gewesen sey.« Dann – erwiederte er – waren Sie wirklich auf einer noch höhern Stufe als der Kaiser. – Da ich alles das zur bloßen Unterhaltung vorbrachte, so erhöhete ich das allgemeine Erstaunen noch dadurch, daß ich hinzufügte: »Alle Bewohner meines Reichs waren nicht bloß meine Unterthanen, sondern mein unbestrittenes Eigenthum, so wie auch das ganze Erdreich, auf welchem sie bloße Pächter oder Arbeiter und dennoch jeden Augenblick bereit waren, ihr Leben zur Rettung des meinigen zu wagen.« Als ich die Gesellschaft noch einige Zeit so hingehalten hatte, lösete ich ihr das Räthsel und erzählte meine Geschichte im gedrängten Auszuge. Die ganze Gesellschaft ergötzte sich an der Erzählung meiner vielfältigen Abentheuer, so selbst, daß wenn ich dies oder jenes nur kurz berührte, ich solches mit mehrerer Umständlichkeit zu wiederholen und zu erklären genöthigt wurde, denn Jedermann schien großen Antheil an meinen Begebenheiten – besonders auf der Insel – und nachher auch mehr an meiner Person zu nehmen.

Der Prinz schien mehr als die Uebrigen gerührt zu seyn, und sagte nach einigen Tagen, als er mich ganz allein mit einem Besuche beehrte und das Gespräch wieder auf den nämlichen Gegenstand gefallen war: Die wahre Menschengröße besteht in der vollkommenen[276] Beherrschung seiner Leidenschaften. Er würde, wenn er darin so weit gekommen wäre, als ich auf meiner Insel, meine beschränkte Monarchie nicht gegen die unermeßliche des russischen Kaisers vertauscht haben. Der höchste Grad der menschlichen Weisheit bestehe darin, seine Wünsche und Leidenschaften mit der Lage in Uebereinstimmung zu bringen, in welche uns die Vorsehung gesetzt hat, wodurch wir dann in unserm Innern einen Gleichmuth erhalten und eine Ruhe empfinden, die uns mitten in den Stürmen, die uns umringen, unerschütterlich machen. In der ersten Zeit meines hiesigen Aufenthalts war ich so von meinem Mißgeschick ergriffen und niedergebeugt, daß ich glaubte, es sey auf der ganzen Welt kein unglücklicherer Mensch als ich, und überließ mich allen Aeusserungen der Verzweiflung und Schwermuth, zerriß meine Kleider, zerraufte das Haar. Aber nachdem meine Leidenschaft ausgetobt und ich eine, freilich geraume Zeit hier verlebt hatte, kam ich zur Besinnung und fand Gelegenheit, alle Umstände meines vorigen und jetzigen Lebens genauer in's Auge zu fassen, Ueberlegungen und Betrachtungen anzustellen und mich zu überzeugen, daß wir in der Natur Mittel finden, die uns in den Stand setzen, uns ein glückliches, unabhängiges Daseyn zu verschaffen und die Unfälle des Schicksals, die von allen Seiten auf uns hereinstürmen, gelassen und mit Standhaftigkeit zu ertragen. Ich gestehe gerne, daß Größe, Macht, Reichthum und die Genüsse und Annehmlichkeiten, die sie uns gewähren, wovon ich auch meinen guten Antheil gehabt habe, uns eine Menge Vortheile[277] geniessen lassen, dagegen aber auf unsere Leidenschaften höchst gefährlich einwirken, unsern Ehrgeiz, Hochmuth, unsere Habsucht und Sinnlichkeit reizen und uns sogar zu Verbrechen hinreissen und uns unfähig machen, ihnen zu widerstehen; unsere Talente und Tugenden, die sonst so viel dazu beitragen können, uns weise und allen Menschen verehrungswürdig zu machen, vermögen nichts gegen die heftigen Antriebe jener Leidenschaften und stehen mit ihnen nicht in der geringsten Beziehung. Die Tugend allein macht den Menschen groß, weise, reich, verehrungswürdig und zu einem höhern Daseyn geschickt, und bei dieser meiner jetzigen Denkart und Ueberzeugung finde ich mich in diesen Wüsteneien weit glücklicher als meine Feinde mitten im Genuß ihrer Macht und Größe und ihrer Reichthümer, deren sie mich wie von einer lästigen Bürde entladen haben, da sie hingegen keinen Augenblick der Fortdauer der ihrigen sicher sind. Glauben Sie nicht, daß die Noth mir diese Versicherungen auspreßt, ohne davon wirklich überzeugt zu seyn, denn ich wünsche nicht, in meine vorigen Umstände und Würden wieder eingesetzt zu werden; das Einzige wäre, ein milderes Klima bewohnen zu können, wo ich ohne Nahrungssorgen anständig und unabhängig wie ein Mann vom Mittelstande leben könnte. Auch wünschte ich die Meinigen wieder zu sehen, aus deren Armen ich so plötzlich und unerwartet gerissen worden bin, und endlich wäre es mir vorzüglich darum zu thun, meinem Sohn, der meine Verbannung theilt, eine gute Erziehung geben zu können, wozu mir hier alle Hülfsmittel fehlen.[278]

Das tiefe Gefühl des Prinzen und seine Aufrichtigkeit drückten sich in dem bewegten Ton seiner Stimme und in seinen Gesichtszügen so deutlich aus, daß gar nicht an der Aufrichtigkeit und Wahrheit seiner Rede zu zweifeln möglich war, und ich war so innigst davon gerührt, daß ich alles unternommen hätte, um seine so billigen Wünsche zu erfüllen. Ich bat ihn, mir eine Frage nicht übel zu nehmen: Ob ihm zur Zeit seiner Entfernung vom Hofe seine Güter nicht wären in Beschlag genommen worden, und ob ihm genug Vermögen übrig bleibe, in einem fremden Lande anständig zu leben? – »Um Ihre Frage richtig zu beantworten, muß wohl unterschieden werden, ob das, was Sie anständig nennen, sich auf meinen Rang als Fürst, der ich wirklich bin, oder bloß auf den Stand eines mäßig bemittelten Privatmannes bezieht. Als Fürst wäre es mir ganz unmöglich, auch nur mittelmäßig zu leben, und davon kann die Rede nicht seyn; aber als ein wohlhabender Privatmann leben zu können, dafür habe ich noch zu rechter Zeit soviel in's Ausland gerettet, daß ich recht anständig und zufrieden mit meiner Familie leben kann. Sie sehen hier unsere Lebensweise. Wir sind hier fünf Standespersonen, die aus den Trümmern unsers Glücks so viel gerettet haben, daß wir nicht genöthigt sind, durch die Jagd für unsern Unterhalt zu sorgen. Die Soldaten und andere geringe Verbannte, welche Zobel und andere Pelzthiere jagen müssen, um ihren Tribut abzutragen, und daneben so viel zu verdienen, daß sie leben können, sind indeß beinahe in eben so guten Umständen als wir, weil man hier wenig[279] bedarf, und alles wohlfeil ist. Die Jagd eines einzigen Monats reicht hin, um ihnen den Bedarf für das ganze Jahr zu verschaffen; was uns hier genügt, würde mir anderswo nicht zureichen, wenn ich nicht schon früher einige Kapitalien im Auslande angelegt, und somit für mich oder für meine Familie gesorgt hätte.«

Diese und mehrere andere Unterredungen mit diesem verehrungswürdigen Prinzen, der in seinem Unglück größer als in seiner vormaligen Hoheit war, machten mich immer begieriger, ihm nützlich zu werden, und ihn, wo möglich, allen Schwierigkeiten zum Trotz, aus diesem Verbannungslande zu befreien. Ich machte allerlei Entwürfe hierzu, sprach ihm auch davon, aber er belächelte sie, und zeigte mir ihre Unausführbarkeit. »Wenn es mit dem Entkommen gethan wäre, so dürfte das Wagniß unternommen werden; aber auch nach der glücklichsten Flucht wäre immer noch die Auslieferung zu befürchten, wenn ich entdeckt würde, was kaum zu vermeiden ist, und dies würde nur mein Unglück vermehren.« Der lebhafte Antheil, den ich an seinem Schicksal nahm, erhöhte indeß seine Gewogenheit je mehr und mehr; er fand in meiner Unterhaltung Zerstreuung, Erholung und Vergnügen; daher vergieng beinahe kein Tag, daß er mich nicht besuchte, oder ich ihm meine Aufwartung machte.

So verfloß mir die Zeit, ungeachtet der strengen Kälte, sehr angenehm. Letztere war so heftig, daß man sich ohne doppelte Maske und mehrfache Hülle des dichtesten Pelzwerks nicht an die freie Luft wagen durfte. Während drei Monaten hatten wir täglich nur[280] fünf Stunden Tag, und die übrigen wären dicke Finsterniß gewesen, wenn nicht die öftern Nordlichter und der häufige Schnee einige Hellung verbreitet hätten, denn oft hiengen schwere Nebel tief auf den Erdboden herab, so daß wir nur selten uns des Mondscheins und Sternlichts erfreuen konnten, und der Frost würde uns doch daran verhindert haben. Unsere Pferde waren in unterirdischen Ställen. Meine Wohnung bestand in einem Hause, dessen Mauern sehr dick, die Fenster klein und doppelt waren. Die Lebensmittel, vorzüglich bestehend in Büffelfleisch, gedörrtem Rennthierfleisch, geräucherten Fischen und vortrefflichem Zwieback, waren im Ueberfluß zu bekommen. Die Strenge des Winters verhinderte die Jäger gar nicht auf die Jagd zu gehen, und uns häufig Wildpret, zuweilen auch große Stücke Bärenfleisch zu liefern, das uns Engländern aber nicht besonders schmeckte. Der Trank war Wasser, mit Weingeist vermischt, das dem Branntewein vorzuziehen war, und wenn wir uns besonders eine Güte thun wollten, so tranken wir Hydromel oder Punsch, doch auch, obwohl selten, Wein. Wir hatten aber eine große Provision des besten Thee's aus China mit gebracht, womit wir unsere Bekannten bewirtheten und beschenkten. Mit einem Worte, wir führten, dem Winter zum Trotz, ein recht angenehmes Leben.

Dies dauerte so bis im Märzmonat 1704. Die Tage begannen nun länger und der Winter milder zu werden. Mehrere Reisende machten Zubereitungen, um nach Moskwa zu reisen; ich hielt mich aber noch still, weil ich entschlossen war, nicht dahin, sondern nach Archangel[281] zu gehen, und da die Schiffe, die aus England, Holland und andern südlichen Gegenden Europa's dahin kommen, nicht vor dem Maimonat oder Juni absegeln, so hatte ich Zeit übrig, wenn ich im August daselbst eintraf. Ich ließ daher die Andern abreisen, und blieb nebst meinem Reisegefährten Wilson noch in Tobolsk, bis der Mai zu Ende lief. Da erst machten wir unsere Anstalten zur Abreise, machten einige Ankäufe von den vorzüglichsten, kostbarsten Peltereien, packten ein, und waren gegen den 10. Juni reisefertig.

Bis dahin hatte ich wiederholte Entwürfe zur Befreiung des Prinzen gemacht, denn nachdem ich seine Einwendungen überlegt, und mich mit denselben vertrauter gemacht hatte, so kamen sie mir immer weniger entscheidend vor. Ich verglich sie mit der Freiheit, welche man allen Verbannten läßt, die nicht in den Bergwerken arbeiten; sobald sie an dem Orte ihrer Bestimmung angelangt sind, können sie überall hingehen, wo sie wollen, und sind freier als ein großer Theil derselben vorher in Rußland selbst war, und ich war verwundert, daß so Wenige diese Freiheit benutzen, um zu entweichen und ein anderes Klima und andere Länder zu erreichen, wo sie eine angenehmere Lebensart führen könnten. Ich nahm mir daher vor, dem Prinzen ernstliche Vorstellungen zu machen, und auf's Neue in ihn zu dringen, mit mir abzureisen.

Es war ungefähr acht Tage vor meiner Abreise, als ich ihm die dringendsten Vorstellungen machte, und ihm genau alle Umstände auseinandersetzte, wie alles[282] anzuordnen und auszuführen sey. Nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, erwiederte er mir Folgendes: »Um die Schwierigkeiten zu würdigen, die sich der Ausführung Ihrer Plane entgegensetzen, muß man erstlich die Gegend und dann zweitens die Lage, worin wir uns befinden, untersuchen und erwägen. Wir Verbannten sind hier mit Schranken umgeben, die weit stärker und undurchdringlicher sind, als Mauern, Riegel und Ketten. Nördlich haben wir ein Meer, das noch kein Schiff befahren hat, noch befahren kann, und wenn wir auch so weit gelangten, so wüßten wir nicht, wohin wir uns wenden sollten, um nicht von Hunger, Frost oder durch unvermeidliches Zertrümmern unserer Fahrzeuge, es sey durch Sturm oder durch Eisklippen, den Untergang zu finden. Auf allen übrigen Seiten sind ausgedehnte Wüsteneien, wo wir über dreihundert Wegstunden weit reisen müßten, die alle zu dem Gebiet des Kaisers gehören, weiterhin aber durch nomadische Stämme bewohnt, oder vielmehr durchzogen werden, die Alles, was ihnen begegnet, zu Sklaven machen, berauben oder umbringen. Die Einen sowohl als die Andern von diesen Steppen sind nur durch wenige und wohlbekannte Straßen durchschnitten, auf welche man ausschließlich eingeschränkt und daher leicht zu entdecken ist, weil keine Nebenstraßen vorhanden sind, die man betreten dürfte, ohne Gefahr sich zu verlieren, von Hunger umzukommen, oder von wilden Bestien zerrissen zu werden. Man will also lieber hier ein leidliches Schicksal erdulden, als sich jenen Gefahren aussetzen, die zu keiner Rettung, wohl aber zum unvermeidlichen[283] Verderben führen. Jene gebahnten Straßen führen jederzeit zu Städten und Stationen, die mit russischen Truppen besetzt sind, und beständig durchpatrulirt werden, und die Gouverneurs und Kommandanten derselben erfahren alles, was die Durchreisenden betrifft. Eine Karavane wird ihr Heil nicht auf das Spiel setzen, um einen oder einige der Verbannten zu retten, und Einzelne von diesen würden unmöglich durchkommen, ohne entdeckt und strenge bestraft zu werden. Nur ein Wahnsinniger könnte folglich ein solches Unternehmen wagen.«

Ich ward freilich hierdurch zum Stillschweigen gebracht, gab mich aber doch noch nicht überwunden, und erwiederte nach einer guten Weile: das wären gewiß höchstwichtige Gründe, den Versuch einer Rettung zu unterlassen; wenn indeß ein Verbannter einen redlichen Reisenden fände, der ernstlich Willens und durch seine Lage und Art der Reise im Stande wäre, ihn zu befreien, und jene Gefahren zu umgehen oder zu beseitigen, so scheine es doch wohl der Mühe werth, einen Versuch zu wagen. Ich selbst wäre dieser Mann, fest entschlossen, Leib, Leben, Freiheit und Eigenthum auf das Spiel zu setzen, um ihn aus diesem Lande der Verweisung zu ziehen, und in Gegenden zu bringen, wo ein günstiges Klima und gesittete Gesellschaft zu finden, und keine Gefahr der Auslieferung zu befürchten wäre, und wohin er dann seine Familie könne nachkommen lassen.

Ich hatte ihm noch nie so dringend zugesetzt als diesmal, ihm nie meine Absichten, wie ich das Unternehmen[284] auszuführen gedenke, und dessen glücklichen Erfolg zu sichern hoffe, mitgetheilt. Ich stellte ihm vor, daß ich nicht nach Moskwa, sondern nach Archangel reise, auf welchem Wege wenig oder beinahe kein Verdacht einer Entweichung zu vermuthen sey; daß ich und Heer Wilson keinen so bedeutenden Zug machten, daß wir genöthigt wären, uns an den Orten, wo russische Besetzungen lägen, aufzuhalten, sondern weiter gehen und lagern könnten, wo wir gut fänden, und daß wir doch stark genug wären, um als eine selbstständige kleine Karavane zu gelten, und uns im Nothfall zu vertheidigen. Dann entwickelte ich ihm die Art, wie er sich von Tobolsk zu entfernen, und an den Zug anzuschließen habe, bis in die kleinsten Umstände.

Er hörte mir mit großer Aufmerksamkeit zu, und schien so gerührt, daß ich in seinen Gesichtszügen seine abwechselnden Gemüthsbewegungen deutlich wahrnehmen konnte. Er schwieg lange, weil er zu sehr angegriffen war, um sprechen zu können. Als er sich endlich erholt hatte, versetzte er: »Wir Menschen sind doch schwache Geschöpfe! Wie sehr wir auch wähnen, uns über das Schicksal erhoben und den Einflüsterungen der Hoffnung oder den Drohungen der Furcht die Unerschütterlichkeit unserer Grundsätze entgegengestellt zu haben, so bedarf es kaum eines leisen Hauches, um unsere ganze Fassung über den Haufen zu werfen. Ich selbst bin jetzt ein Beispiel von dieser demüthigenden Wahrheit. Schon vor einiger Zeit, wie Sie sich wohl noch erinnern werden, habe ich Ihnen meine philosophischen Ansichten über meine vormalige und jetzige[285] Lage mitgetheilt, und ich kann Sie versichern, daß ich aus voller Ueberzeugung sprach, und dennoch hat mich Ihr heutiges Anerbieten sehr erschüttert. Ich würde der undankbarste Mensch von der Welt seyn, wenn ich an Ihrer Aufrichtigkeit zweifeln oder gar vermuthen könnte, Sie hätten mich nur auf die Probe setzen wollen; und dennoch setzen Sie mich wirklich auf eine sehr harte Probe, der ich beinahe unterlegen wäre. Aber mein vorgerücktes Alter, meine Erfahrungen kommen mir zu Hülfe, und versetzen meinen Geist wieder in seine ruhige Stimmung, und bestärken mich in der Ueberzeugung von der Richtigkeit jener Ansichten. Wäre ich noch in einem Alter, wo ich hoffen dürfte, bei einer günstigen Veränderung auf dem Throne oder des Ministeriums wieder in meine Würden, Ehren und Güter eingesetzt werden zu können und sie noch einige Zeit zu geniessen, so würde ich Ihr freundschaftliches Anerbieten ohne Anstand annehmen; aber bei meinen Jahren läßt sich das nicht erwarten, und ich würde meinem Sohne eher schaden, als uns Beiden nützen. Ich sehe mich daher gezwungen, solches abzulehnen, denn ich kann mich jetzt in die hiesige Lebensart schicken. Ich bin Ihnen aber eben so dankbar, als ob ich Ihr Anerbieten angenommen und schon wirklich benutzt hätte. Auch hoffe ich Ihnen einen unzweideutigen Beweis zu geben, wie sehr ich von Ihrem aufrichtigen und uneigennützigen Betragen überzeugt und gerührt bin. Ich fühle mich genöthigt, mich in etwas zu erholen, mit mir selbst zu berathen und einige Stunden zu erwägen, wie ich einen Entschluß zu fassen, den ich nicht zu bereuen[286] habe. Ich werde diesen Abend zu Ihnen kommen, um Ihnen das Resultat meiner Erwägungen mitzutheilen.« Da ich wohl sah, daß er Ruhe bedürfe und gern sich selbst überlassen wäre, so empfahl ich mich mit dem Versprechen, ihn diesen Abend bei'm Thee zu erwarten.

Herr Wilson, der mit mir im gleichen Hause wohnte, und der nichts von meinem Antrage an den Prinzen wissen sollte, war zu sehr Kaufmann und zu sehr beschäftigt, um vor unserer so nahen Abreise noch gute Geschäfte zu machen; er blieb meistens nach dem Mittagessen bis nach zehn oder eilf Uhr Abends bei seinen Handelsfreunden oder im Kaffehause, und so hatte ich desto weniger zu befürchten, er möchte uns belästigen, da die Unterhaltung des Prinzen für ihn eben so wenig Annehmlichkeit als die seinige für den Prinzen hatte, daher er sich sogleich zurückzog, wenn er denselben bei mir fand, da, wie er sich ausdrückte, wir nur von Dingen sprachen, die nichts einbrächten. Ich erwartete den Prinzen zum Thee, und er kam wirklich um die gewöhnliche Zeit. Es war Niemand zugegen, und ich schenkte den Thee selbst ein, um desto ungestörter und freier uns unterhalten zu können. Nachdem wir ein paar Schaalen getrunken hatten, fieng er von selbst an, über die fragliche Angelegenheit zu sprechen. »Ich danke Ihnen nochmals für Ihr gütiges Anerbieten, mir aus diesem Eislande zu verhelfen. Ich habe lange und reiflich darüber nachgedacht und gefunden, daß die Gründe, auf welchen mein Entschluß beruht, und die ich Ihnen bereits mitgetheilt, von solcher Stärke und so entscheidend sind, daß, was meine Person[287] betrifft, ich unerschütterlich dabei bleibe, denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr werde ich darin bestärkt. Dagegen aber möchte ich Ihre Bereitwilligkeit und Ihren Beistand für eine andere Person in Anspruch nehmen, wofür ich Ihnen eben die Erkenntlichkeit haben würde, als ob Sie es mir selbst thäten, und wirklich ist sie als mein eigenes Selbst zu betrachten, denn es ist mein Sohn.« – Wenn das ist, versetzte ich, so kann keine Frage seyn, ob ich wolle oder nicht, und da ich Ihnen den angebotenen Dienst nicht persönlich erweisen kann, so ist es mir höchst angenehm, daß ich Ihnen in Ihrem Sohne dienen kann. Ist er hier in Tobolsk? ich erinnere mich gar nicht, ihn gesehen oder auch nur von ihm spreche gehört zu haben. – Hierauf vernahm ich von dem Prinzen, sein Sohn sey in einer andern Stadt, etwa hundert Wegstunden von hier, es würde aber wohl zehn oher vierzehn Tage dauern, ehe er hier eintreffen könne; worauf ich ihm aber bemerkte, die Reise lasse sich leicht noch etwas aufschieben, und er möchte nur seine baldige Ankunft veranstalten, da es doch räthlich wäre, ihn nicht lange in der Nähe zu behalten. Wir verabredeten nun alles, und es ward beschlossen, der junge Prinz solle gleich bei seiner Ankunft bei mir abtreten, wo ihn sein Vater, der ohnedies täglich zu mir kam, so oft sehen konnte, als er wünschte. Ich ließ auch sogleich ein Zimmer zu seinem Empfang einrichten, und er langte wirklich zehn Tage nachher, als schon die Nacht eingebrochen war, in meiner Wohnung an. Zu gleicher Zeit waren seine Bedienten mit sechs oder sieben Polenpferden angelangt, welche in des[288] Vaters Wohnung gebracht wurden, und mit den kostbarsten Peltereien für den Werth einer großen Geldsumme beladen waren.

Herr Wilson sehnte sich zwar sehr nach England zurück, das er schon seit längerer Zeit als ich verlassen hatte, dies verhinderte ihn aber nicht, mich einige Tage vor Ankunft des jungen Prinzen zu ersuchen, unsere Abreise um acht oder zehn Tage zu verschieben, weil ihm ein Kaufmann ganz vortreffliches Pelzwerk angeboten habe, das nicht vor Ablauf dieser Zeit eintreffen könnte. Ich erwiederte ihm, daß er ja wohl wisse, daß ich ihm gern in allem gefällig zu seyn wünsche und ich mir den Aufschub mit Freuden gefallen lasse. Mir dagegen war es angenehm, daß er zuerst mich darum bat, gerade in dem Augenblicke, als ich ihn darum ersuchen wollte, was ihn vielleicht neugierig gemacht hätte, um meinen Beweggründen nachzuforschen. So begünstigte mich der Zufall wie von selbst. Der Prinz konnte nun seinen Sohn desto länger geniessen und ihm Lehren geben, wie er sich zu benehmen habe; er gab ihm auch Empfehlungsschreiben, eine Summe Geld und besonders die Peltereien, die seine Bedienten gebracht hatten. Mich bat der Prinz, für den Verkauf derselben zu sorgen, weil sein Sohn, ein Jüngling von fünfzehn Jahren, keine Kenntnisse hievon besaß.

Nachdem nun Herr Wilson auch seine Waaren erhalten und gehörig eingepackt hatten, und alle Zubereitungen beendigt waren, erfolgte unsere Abreise am 19. Juni 1704. Man wird mir den Abschied des Prinzen[289] von seinem Sohne, der nun eine so gefahrvolle Reise und eine ganz neue Laufbahn antrat, erlassen. Auch ich trennte mich mit tiefem Schmerz von diesem edeln, eines bessern Schicksals so würdigen Fürsten, und ich bemerkte, daß er nicht weniger gerührt war als ich. Unser Zug war nicht groß im Vergleich mit der Karavane, mit welcher ich von Peking nach Tobolsk gekommen war. Er bestand aus dem jungen Prinzen, welcher einen Kammerdiener und einen Lakaien – beides treue, erprobte Männer – nebst drei Knechten zur Besorgung der Pferde hatte. Dann war ich und Herr Wilson, der Portugiese, mein treuer Matrose, John, Wilsons Bedienter und sechs Knechte bei den Pferden, deren Anzahl insgesammt auf dreißig stieg, davon sechs Reitpferde, die übrigen Packpferde waren, welche unser Gepäcke und unsere Waaren trugen; eilfe gehörten dem Prinzen, alle aber passirten unter meinem Namen, selbst der Prinz passierte für meinen Sekretär und Niemand als seine beiden erprobten Diener wußten, wer er war, denn ich hatte alle zur Abwartung und Führung der Pferde nöthigen Knechte für mich gedungen. Ausserdem hatten wir zwei Wegweiser, sowohl um den Zug zu leiten, als uns für Dollmetscher und Quartiermacher zu dienen, so daß wir achtzehn entschlossene und wohlbewaffnete Männer waren.

Quelle:
[Defoe, Daniel]: Der vollständige Robinson Crusoe. Constanz 1829, Band 2, S. 272-290.
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