22.

[51] Die Nacht am Horizont gähnt Strahlen,

als wolle der Himmel die Erde verzehren

oder ein neues Gestirn gebären;

zwei Menschen sehn ein Nordlicht prahlen.

Sie stehn auf eisernem Balkone;

sie sehn den Glanz elektrisch zucken,

sich auf und ab ins Dunkel ducken.

Ein Mann sagt schmeichelnd, sagt mit Hohn:


Das, Fürstin, scheint mir recht ein Thron

für deinen neuen Menschensohn.

Ich möcht ganz lange Arme haben:

dann setzt'ich dich mit deinem blinden Knaben[52]

dort auf die herrlichste Flackersträhne.

Ich seh ihn, wie er deine Mähne

schwarzstrahlig durch den Weltraum spannt,

hoch über allen Sinn und Verstand.

Du hast doch gar zu wüstes Haar;

für eine Mutter sonderbar!


Dem Weib zucken die Augenbrauen;

wo die schwarzen Bogen sich spalten,

zittern zwei kleine quere Falten,

wie ein zerbrochenes Kreuz zu schauen.

Sie sagt verhalten:


Du zielst fehl auf mein Mutterherz,

Dir lacht es selbst beim bittersten Scherz.

Ich gebe Nichts an mein Kind verloren.

Ich fühle nicht: dies Kind ist Mein.

Ich fühl: ich hab einen Menschen geboren

zu seiner eigenen Lust und Pein!

Ich geb ihm meinen Glückwunsch blos!

und trage noch manchen Wunsch im Schooß!

Weib sein ist doch das herrlichste Loos!


Ihr dunkler Blick hat sich gefeuchtet.

Der Mann streicht ihr wild Haar versonnen

glatt wie zum Scheitel der Madonnen.

Zwei Menschen sehn die Nacht erleuchtet.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 51-53.
Lizenz:
Kategorien: