24.

[55] Die hohen Kiefern können noch nicht rauschen;

sie schweigen schneebedrückt. Zwei Menschen lauschen,

wenn manchmal durch den schwerbeladnen Wald

das Eis der fernen Seeen knallt.

Dann scheinen tiefer noch gesenkt

die dunkeln, weißgesäumten Äste,

um die das Frühlicht machtlos hängt.

Ein Mann spricht mit ergriffner Geste:


Das ist wie eine Versammlung von Greisen

um ein fremdes Täuflingsbette.

Keiner rührt mit seinen weisen

Händen an die Schicksalskette.
[56]

Sie lassen stumm das Unverwandte

zwischen ihren Seelen schweben.

Sie segnen fromm das Unbekannte:

es wehrt dem Überdruß am Leben.

Sie schenken jedem Morgengrauen

ohne Anspruch ihr Vertrauen.


Durch den schwer beladenen Wald

geht auf einmal ein Schattenwanken;

von den Zweigen, die noch schwanken,

fällt der Schnee, zu Schlacken geballt.

Über ein Weib kommt ein Gedanke:


Lukas, du sollst dich nicht verstellen!

Wenn unter diesen starren Bäumen,

so oft der Eisschreck draußen schallt,

Echos wie aus schweren Träumen

In mein warmes Leben kalt

diesen Todesschauer bellen,

daß wir unser Glück versäumen –

dann sollst du nicht mit solchen ausgedachten

Bildern mich zu prüfen trachten,

dann sollst du mit mir fühlen und denken:

wir wollen Nichts und Nichts dem Schicksal schenken!


Die hohen Kiefern können noch nicht rauschen.

Zwei Menschen scheinen auf ihr Herz zu lauschen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 55-57.
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