10.

[103] Und sie steigen den bleichen Firnen zu,

von dem fernen stummen Blitzdunst umhaucht,

der die schwülen Almen, die Pfade, die dunkle Fluh,

die Hütten, die Heerden in Geisterlicht taucht –

wie verzaubert staunt der Blick einer Kuh.

Groß voll Ruhe, weitauf trunken,

schlürft das Auge die Himmelsfunken,

reglos ragt das Hörnerpaar –


Wie die Götterfürstin starrte,

wenn sie auf den Gatten harrte,

dessen Gruß der Blitzschlag war –

raunt der Mann dem schauenden Weibe[104]

seltsam zu und macht sich frei.

Ein erstickter Schrei –

sausend zuckt sein Bergstock an ihr vorbei –

und ein Schritt, und funkelnd mit peitschendem Leibe

speit unter seinem knirschenden Schuh

eine Viper den letzten Blick ihr zu,

noch tötlich lauernd.

Schützend, schauernd

naht ihr seine Stimme: Du –

innig bis ins bangste Mark:

Lea! meine Löwin! sei stark!


Sie hat die großen Augen geschlossen;

wie ein klein Mädchen steht sie da

mit ihrer Haut voll Sommersprossen,

bleich vom Glanz der Blitze umflossen.

Wie verzaubert nickt sie: Ja –


ich weiß nit, wie mir eben geschah –

halt mich noch ein Weilchen umfangen,

du warst so ruhig, bleib mir nah –

ich wußt ja nit: mir graut vor Schlangen –

bis unters Herz ist mir's gegangen –

o geh mit deiner Löwin, Du:

ich glaub, ich bin – lach nit – dei' Kuh –


Und zwei Menschen segnen ihr Todesbangen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 103-105.
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