22.

[127] Und sie schreiten durch verwüstete Fluren.

Von Hügel nieder zu Hügel hingeschwemmt

ziehn sich des Wolkenbruches Spuren.

Die Bäume stehn noch wie gekämmt.

Das reife Korn am Weg ist wie geplättet.

Fern am durchbrochnen Bahndamm hängen,

Strickleitern gleich, Reste von Schienensträngen;

die Brücke liegt zerrissen im Fluß gebettet.

Die Sonne blitzt aus hundert Spiegelflächen.

Des Weibes Blick folgt den gefüllten Bächen:


Wie wird nun nach dem ersten Staunen und Grauen

der Mensch hier rings mit doppelt mächtigem Mut[128]

bahnen und bauen,

bis die Natur ihm seinen Willen tut!

So stand ich einst – o endlich kann ich's sagen –

nach frischer Tat vor meinem getöteten Kind.

Im Garten draußen stöhnte die Nacht, der Wind.

In meinem Innern sah ich Blutstürme jagen.

Ein Paradies reifer Hoffnungen lag mir zerschlagen.

Aber ein Glaube schwoll draus auf, so groß,

als bebe die Erde vor Drang mich hochzutragen:

oh, unerschöpflich ist der Mutterschooß! –

Gieb mir die Hand, Lux: jedes Mißgeschick

macht uns geschickt zu neuem Glück!


Sie greift nach seiner gelähmten Rechten,

eine Himmelsklarheit im dunkeln Augenpaare

gleich den glanzgefüllten Bächen.

Er will noch wehren. Er möchte sprechen.

Da –: ein Schauer reckt sie – seine Finger umflechten

ihre stolzen Hüften, ihn zieht das Unsagbare –

er steht und stammelt, kaum bewußt:


du Liebe, Schöne, Gute, einzig Wahre!

du Mörderin aus Lebenslust!

du Kind, du Engel an meiner Brust!


Der Himmel glänzt aus jeder Wasserrinne;

zwei Menschen sehn's wie eines Wunders inne.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 127-129.
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