Nervenschwäche

[118] Es gab eine Zeit, wie man sieht, wo die Weiber aus Furcht, daß ihre Kleinode[118] reden möchten, erstickten und fast umkamen. Darauf folgte eine Zeit, wo sie sich über diese Besorgnis wegsetzten, die Maulkörbe abschnallten und nur Nervenschwäche hatten.

Unter den Freundinnen der Favorite befand sich ein sonderbares Mädchen. Ihre Laune war allerliebst, obwohl ungleich. Sie veränderte zehnmal des Tags ihr Gesicht, aber sie gefiel in jeder Veränderung. Ihre Schwermut war nicht minder einzig als ihre Fröhlichkeit. In ihren ausgelassensten Augenblicken entschlüpften ihr Worte von außerordentlicher Feinsinnigkeit; und in ihren traurigsten Anfällen Torheiten, worüber man herzlich lachen mußte. Dies närrische Ding hieß Callirhoe. Mirzoza war so sehr an sie gewöhnt, daß sie fast nicht ohne sie leben konnte. Eines Tages beklagte sich der Sultan, die Favorite etwas unruhig und kühl zu finden. Dieser Vorwurf setzte sie in Verlegenheit. »Gnädiger Herr,« antwortete sie, »wenn ich meine drei Tiere nicht um mich habe, meinen Kanarienvogel, meine Katze und meine[119] Callirhoe, so tauge ich nichts. Sie sehn, die letzte geht mir ab.« – »Warum ist sie denn nicht hier?« fragte Mangogul. »Ich weiß nicht,« antwortete Mirzoza, »sie sagte mir freilich schon vor einigen Monaten, wenn Mazul mit ins Feld müßte, so würde sie sicherlich Nervenschwäche bekommen, und Mazul ist gestern abgereist.« »Der mag noch hingehen,« erwiderte der Sultan, »das nenne ich durchaus begründete Nervenzustände. Aber warum fällt es hundert andern ein, sie sich beizulegen, die ganz junge Männer haben und keinen Mangel an Liebhabern leiden?« »Gnädigster Herr,« antwortete ein Höfling, »es ist die Modekrankheit. Nervenschwäche zu haben, das verleiht einer Frau Ansehen. Ohne Liebhaber und Nervenschwäche weiß man nichts vom guten Ton; und dann muß jede Bürgersfrau in Banza so etwas haben.«

Mangogul lächelte und faßte sogleich den Entschluß, einige dieser Nervenkranken zu besuchen. Er begab sich geradeswegs zu Salica. Sie lag im Bette, den Busen bloß, die Augen entzündet, das Haar aufgelöst.[120] Der kleine stammelnde bucklige Arzt Farfadi saß neben ihrem Kopfkissen und plauderte ihr vor. Unterdessen streckte sie bald einen Arm aus, bald den andern, gähnte, seufzte, rieb sich die Stirn und rief schmachtend aus: »Ach! ... Ich kann es nicht aushalten! ... Macht das Fenster auf! ... Luft! Luft! ... Ich kann es nicht aushalten! ich sterbe!«

Mangogul nutzte den Augenblick, da die geängstigten Kammerfrauen und Farfadi die Bettdecke abzogen, seinen Ring gegen sie zu drehen, und sogleich hörte man: »O! wie mich dies alles langweilt! Nun will die gnädige Frau Nervenschwäche haben. Das wird acht Tage lang anhalten; und ich will auf der Stelle sterben, wenn ich weiß warum? Farfadi hat sich ja so angestrengt, das Übel in der Wurzel zu heben, daß es billig nicht mehr fortdauern sollte.« – »Gut!« sagte der Sultan und zog den Ring zurück. »Ich verstehe, die ist nervenkrank, weil sie es mit ihrem Arzte gut meint. Wir müssen doch weiter sehn.«

Er verließ Salicas Behausung und verfügte[121] sich zu Arsina, die in der Nachbarschaft wohnte. Bei seinem Eintritt in ihre Gemächer hörte er ein lautes Gelächter und nahte sich in der Meinung, daß sie Gesellschaft haben würde. Dennoch fand er sie allein, und Mangogul wunderte sich darüber nicht sehr. »Will eine Frau Nervenzufälle haben,« sprach er, »so wählt sie fröhliche oder traurige, wie es gerade paßt.«

Er drehte seinen Ring gegen sie, und alsbald lachte ihr Kleinod aus vollem Halse. Plötzlich ging es von diesem traurigen Gelächter zu lächerlichen Jammertönen über. Denn Narses war abwesend, ihm riet es als ein guter Freund, seine Rückkehr zu beschleunigen, und dann fing es von neuem an zu schluchzen, zu weinen, zu ächzen, zu seufzen, zu verzweifeln, als wären all die seinigen zu Grabe gebracht.

Über eine so seltsame Betrübnis hätte der Sultan bald die Fassung verloren. Er drehte seinen Ring wie der zurück und ging weg. »Mögen,« sagte er zu sich selbst, »Arsinoe und ihr Kleinod nach Herzenslust wehklagen; es sind doch nicht alle Sprichwörter wahr!«

Quelle:
Denis Diderot: Die geschwätzigen Kleinode. München 1921, S. 118-122.
Lizenz: