16.

[105] In diesem Hause schläft ein Wicht,

Daß Gott sich sein erbarme,

Mit kreideweißem Angesicht

Und klapperdürrem Arme.


Er schläft? ... Er wälzt auf seidnem Pfühl

Die Glieder mit Fluch und Gewimmer,

Ist's ihm zu heiß, ist's ihm zu kühl,

Recht ist's dem Schächer nimmer.


Und um ihn rauscht die Gardine schwer

Von goldenen Fransen und Falten,

Der Nachttisch kann der Fläschlein Heer

Und der Tropfen Meer kaum halten.


Warum er nicht schläft? Warum er in Wut

Die Spitzen am Hemde zerrissen?

Ein gutes Gewissen schläft überall gut

Und nirgends ein böses Gewissen.


Er hat an des Landes Mark, die Schlang',

Sich voll gefressen, gesogen,

Er hat – ein Menschenleben lang! –

Gestohlen, gelogen, betrogen.


Hei, Dir auf deinem Dunen-Bett,

Im Steinsarg deiner Paläste,

Wenn ich itzt mein altes Horn noch hätt',

Dir brächt' ich ein Ständchen aufs Beste!
[106]

Du schrecktest wie vom Tarantelstich

Aus teuererkauftem Schlafe,

Wähnend, die Posaune weckte dich

Und riefe zur endlichen Strafe!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 105-107.
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Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Deutsche Texte)