18.

[108] Dort, wo kein Baum der frommen Trauer

Verlassne Hügel grün belaubt,

Dort ruht, dicht an der Kirchhofs-Mauer,

Ruht meines Vaters heilig' Haupt.


Warum sie ihn so weit gebettet

Von guter Christen Lagerstatt?

Weil er, den andre nicht gerettet,

Zuletzt sich selbst gerettet hat.


Weil er zum Dieb nicht werden mochte

Und weil dem Bettler niemand gab,

Drum schnitt er seinem Lebensdochte

Rasch selbst die tote Kohle ab.


Selbstmördern streng den Stab zu brechen,

Wenn man warm sitzt im hohen Rat,

Von Feigheit und Verirrung sprechen,

Ist, wahrlich! keine Heldentat.


Doch wüßtet Ihr, wie dem zu Mute,

Der, aller Erdenhoffnung quitt,

Fertig mit Gott, mit kaltem Blute

In seine roten Adern schnitt:


Der nachts sich in die Wellen stürzte,

Nachdem er lang am Ufer hing,

Der künstlich selbst die Schlinge schürzte,

Darin sein Atem sich verfing:
[108]

Säht' Ihr, wie reuig und erstarrend

Die Hand nach einem Halme griff,

Und wie die Kehle, rettungs-harrend,

Nach ferner Hilfe krampfhaft rief: – –


Ihr wäret lasser im Verdammen

Und littet wohl in Majestät,

Daß solche Blumen nah beisammen

Modern mit den', so Gott gemäht!


Sie haben keinen Stein gegeben,

Kein Mal, mein armer Vater, dir,

Und dennoch warest du im Leben

Ein Mann wie wenig Männer hier.


Gleichviel! Ich finde doch die Pfade

Zu deines Grabes Nesselbeet,

Wenn gleich kein Kreuz mit »Gottes Gnade«

Und »Schlummre sanft« darübersteht.


Dank deinem Leben, das geschäftig

Mir keine Lehre schuldig blieb,

Dank deiner Hand, die allzukräftig

Sie auf den jungen Rücken schrieb!


Dank deinem Tod, der ohne Worte

Mir einen großen Trost verhieß;

Er zeigt mir doch, an welchem Orte

Ein Loch der Zimmermeister ließ.

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 108-109.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Deutsche Texte)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon