2.

[119] Und daneben die Zeugen der alten Zeit,

Der römisch-deutschen Herrlichkeit,

Der Römer mit seinen Kaiserbildern,

Goldenen Bullen und Wappenschildern!


Der Platz, den einst mit schwerem Tritt

Der neugekrönte Kaiser beschritt

Über scharlachene Decken von Samt,

Worauf in Gold der Adler geflammt!


Dort fiel der Stier, dort sprang der Wein,

Dort riß das Volk die Küche ein,

Und rings ein Drängen in engen Räumen

Mit Glockengeläut und Becherschäumen!


Beschleicht dich in heutiger Nüchternheit

Nimmer ein Traum von solcher Zeit?

Hast du über Herbst- und Ostermessen

Deiner alten Glorie ganz vergessen?


Dein Strom wird breit, dein Quai wird weit,

Deine Straßen verschönen sich alle Zeit,

Und nur dein Herz, dein Volksbewußtsein

Schrumpft ein und wird bald völlig Verlust sein.


Ermanne dich, deutsche Stadt am Main!

Du sollst mit unter den ersten sein,

Nicht bloß ein Tor, um durchzuwandeln,

Nicht bloß eine Halle zum Kaufen und Handeln.


Prozent und Wechsel und Agio,

Das macht ein deutsches Gemüt nicht froh,

Und die Juwelen und die Paläste

Sind auch noch nicht von allem das Beste.


Roll hin in deiner Karossen Glanz;

Du verrollst, verrennst, verrechnest dich ganz;

Und bist und bleibst am Ende netto

Doch nur unser erstes und letztes Ghetto!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 119-120.
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