1.

[220] Tod! der du meine innersten Gedanken

Beherrschest, unbezwingbar, unaufhaltsam,

Der du mein ganzes Sein durchdringst, gewaltsam

Erschütternd meines Wissens enge Schranken;

Vernichter, der du weit, unendlich weit

Von Frühlingsschauern, die mein Herz durchbebten,

Von Wonnen, schon erträumten und erstrebten,

Erschienst, in meines Lebens Blütezeit;

Den ich gefürchtet, als des Schaffens Drang

Aus meiner Heimat Gauen mich verbannte,

Als ich zu freien Thaten mich ermannte,

Entwöhnt von Orgelton und Glockenklang;

Tod, den ich scheu betrachtet und betastet

Trotz der Verheißung seliger Gefilde;

Den ich nicht liebe, weil des Daseins milde

Gewohnheit auch auf meinen Schultern lastet;

Den ich getrost erwarte, weil das Ende,

Der letzte Schlaf, den keine Träume stören,

Des Auferstehens schmerzliche Legende

Mich weder schrecken können noch bethören;[221]

Herr über alles, was die Sonnen wecken,

Was kreucht und fleucht – erhöre mein Gebet!

Ich will dein Sänger sein und dein Prophet,

Doch nur, um dich mit Rosen zu bedecken.

Ich preise des Vernichters Schöpfungskraft,

Ewig verjüngend das für uns Verlorne.

Der eingepflanzte wie der angeborne,

Der alte Glaube weicht der Wissenschaft.

Das ist ein schweres Wort, vielleicht ein herbes;

Doch fließt es nicht aus giftgetränkter Feder,

Unwürdig meines väterlichen Erbes,

Und nicht erschallt es trotzig vom Katheder;

Nein! was in stillen, weihevollen Stunden,

Was ich von dir erhoffe und erflehe,

O Tod, sei Balsam für der Menschheit Wunden,

Sei süßer Trost für meiner Brüder Wehe!

Vergebens schweifen von des Himmels Flur

Verweinte Augen nach ergrauten Domen

Und suchen neues Leben bei Phantomen

Statt in dem lichten Tempel der Natur.

Dem Tode, der sein Werk nicht ganz vollendet,

Der Hirngeburt, die, müde Herzen brechend,

Bald drohend, bald versöhnend und versprechend

Mit Sterbefackeln uns die Augen blendet;

Dem Tode, dem verjährter Aberglaube

Ein morschgewordnes Monument errichtet

In thränenfeuchtem, blutvermischtem Staube,[222]

Ihm selber ist mein Requiem gedichtet;

Ein Requiem – mein Herz in jeder Note –

Ein Lied, in meiner Einsamkeit erdacht,

In treuer Menschenliebe dargebracht

Als meiner Geistesfreiheit stolzer Bote.

Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 220-223.
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