11.

[233] Schmerzen begreifen, ehren, nachempfinden

Und dann das Mitgefühl, das ihn bemeistert,

Wie die Bewunderung, die ihn begeistert,

In edle, kunstgerechte Formen binden,

Das ist des Auserkorenen Beruf,

Das seine Sendung –; wie Posaunenstöße

Ertönt sein Klagelied, wenn ihn die Größe

Des Menschenelends zum Poeten schuf.

Wohl läßt sich auch das andre nicht vermeiden:

Daß Seufzer, die der Phantasie entquellen,

Behutsam sich in schöne Worte kleiden,

Bevor sie fremdem Leid sich beigesellen.

Doch laßt sie gelten! Der Gedanke heiligt,

Was die Beredsamkeit mit Blumen schmückt;

Und wenn dem Künstler das Gepräge glückt,

War auch sein Herz im Schaffensdrang beteiligt.

Und fallen von den Augen ihm die Schuppen,[233]

Erkennt er, daß die Menschheit sehr vergeßlich,

So weiß er auch, daß Schmerzen, unermeßlich,

In mancher Brust ungreifbar sich verpuppen.

Dann wird die eigne Klage leiser, milder;

Vor Qualen, die nur Grabesruhe heilt,

Ist selbst der schönste Vers umsonst gefeilt,

Erbleichen alle Worte, alle Bilder.

Im Sonnenlichte und in Todesgrüften

Weilt der Poet – so will es sein Geschick;

Doch nicht in alle Schmerzen dringt sein Blick,

Er kann, er darf nicht alle Schleier lüften.

Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 233-234.
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