28.

[255] O Morgenrot, ersehntes Morgenrot!

Noch bist du nicht für alle angebrochen;

Die Menschheit kämpft mit Zweifeln und mit Not.

Von andern Lippen ward das Wort gesprochen:

Das Sterben in der Dämmerung ist schuld

An dieser freudenarmen Ungeduld.

Es ist genug des Zagens und des Schwankens;

Wir, so zerfahren, eilig und geschäftig,

Sind, als ein Teil des großen Weltgedankens,

Nur als belebte Larven denkenskräftig.

Sei, Weltgeist, du, in unverfälschter Reinheit,

Kein Götze, dessen kalte Hand wir küssen;

Sei ein geliebter Hauch, trotz unsrer Kleinheit

Und trotz der Opfer, die wir bringen müssen;

Auf Gräber lasse Thränen niederregnen,

Doch laß fortan, auf sonnenhellen Pfaden,

Hamlet und Manfred lächelnd sich begegnen

Und Faust die Stirn im freien Aether baden!

Vorüber mit der Lust ist auch die Pein:

Da mit dem Tode das Bewußtsein endet,

Laß, unsrer Mutter Erde zugewendet,

Bewußtvoll meine Brüder glücklich sein![256]

Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 255-257.
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