IX.

In der Blindheit sind die Organa mit einer vortreflichen Empfindungskraft versehen.

[14] Es ist ein grosses Unglück, daß der Verlust des Gesichts den Menschen in den betrübtesten Zustand versetzet; jedoch verbessert die Blindheit gleichsam zu einiger Schadloshaltung das Gehör, den Geruch und das Gefühl auf eine ganz besondere Art, welches, wie ich glaube, sowohl durch die beständige Nothwendigkeit, in der sich ein Blinder befindet, dem Verlust seines Gesichts mit diesen Sinnen zu Hülfe zu kommen, als auch durch die Entfernung der Zerstreuungen bewirket wird, wodurch ein Blinder öfters eine Ruhe, einen stillen Zustand empfindet, welche uns das Vermögen zu sehen fast alle Augenblicke entziehet. Pfleget[14] man nicht öfters die Hand vor das Gesicht zu legen, damit man mit nichts alt mit dem Gegenstand möge beschäftiget werden, welchen man in seinem Gedächtniß suchet, als ob man gleichsam dadurch den Augen alle Gelegenheit zu Zerstreuungen benehmen wollte? Folgender Umstand dienet zu einem Beweiß, wie sehr die Natur bey einem Blinden, welcher ein ausserordentlich feines Gehör und Geruch hatte, den Verlust des Gesichts ersetzet hat. Ein Blinder aus dem Armenhaus der Dreyhunderter zu Paris hatte zwey Töchter, welche Zwillinge waren, und von denen oft eine mit der andern verwechselt wurde; er unterschiede sie so gleich, wenn er sie in dem Gesicht befühlte, und sagte, ohne jemals zu irren, diese ist die Louison, und jene ist die Jeannette. Sein Geruch ließ ihn sogar bemerken, wenn die Natur bey ihnen die weibliche Reinigung wirkte.


Eines Tages befand er sich nicht wohl, und kam eher als er sonst in Gewohnheit hatte, in sein Zimmer, in welchem sich die Louison eben dazumal mit einem jungen Menschen befande, den sie liebte, und bey seiner Ankunft leiß hinaus gehen liese; allein das Gehör war bey unserm Blinden allem Vermuthen nach so sein als sein Geruch und Gefühl; er faßte die Louison bey der Hand, roch ihr in das Gesicht und an die Brust, und behauptete, daß er[15] ihrer erst ganz kürzlich verübten Unzucht versichert wäre, und weil er sehr auffahrend war, so fieng er an, sie auf das grausamste zu mishandeln; der junge Mensch, welcher aussen vor der Thür stehen geblieben war, gieng, als er solches hörte, wieder in das Zimmer hinein, und sagte ihm, daß er keine andern Absichten hätte, als seine Tochter zu heurathen, mit der er sich ehelich versprochen hätte, und daß er hoffe, daß er ihm selbige, wenn er sich selbst bey ihr würde deswegen erkundiget haben, nicht abschlagen werde. Unser Blinder erkundigte sich, und nachdem er erfuhre, daß dieses ein wohlgesitteter junger Mensch seye, der einen kleinen Dienst bey einem Gericht habe, bewilligte er ihm die Louison nebst einem Heurathgut von eilf tausend Livres.


Essais Histor. sur Paris.


Es wird vielleicht nicht überflüßig seyn, hier anzumerken, daß Ludwig der Heilige im Jahr 1260. das Armenhaus der Dreyhunderter für dreyhundert blinde Bettler gestiftet hatte.

Quelle:
[Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine] : Medicinische Anecdoten. 1. Theil, Frankfurt und Leipzig 1767 [Nachdruck München o. J.], S. 14-16.
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