LXXI.

Wundersame Geschichte eines Nachtwanderers.

[142] Man erwartet, wie ich glaube, noch immer eine zuverläßige deutliche Erklärung der Ursache, wie es kommt, daß gewisse Leute schlafend, alle mögliche Handlungen des Lebens, auch nicht einmal das Kinder-Zeugen ausgenommen, vornehmen. Die Art, deren man sich bedienet, diese wundersame Krankheit zu vertreiben, wird vieleicht mit der Zeit einiges Licht in dieser Sache geben können. Folgende Geschichte, die aus des Vigneul Marville Melanges d'histoires et de litteratures genommen ist, wo solche angeführet wird, ist ausserordentlich wundersam.


Es hatte wich einer meiner Freunde eingeladen, die Feyertäge mit ihm in einem schönen Haus zuzubringen, welches er in der Gegend bey Brie hatte, die man vor diesem das Paradies der Partheygänger nennete; ich fande daselbst eine schöne Gesellschaft, und unterschiedliche Leute vom Stand; unter andern traf ich auch einen italienischen Edelmann, welcher sich den Herrn Agostino Forati[142] nennete, an, der ein Nachtwandererer war; das ist, der im Schlaf die gewöhnlichen Handlungen des Lebens, die man wachend zu thun pfleget, vornahme. Dieser Mensch schiene nicht älter als dreysig Jahre zu seyn; er war mager, schwärzlich, und sehr melancolisch, aber von einem durchdringenden Verstand, und in den tiefsinnigsten Wissenschaften geschickt. Die Anfälle seiner Verwirrung überfielen ihn mehrestentheils im Abnehmen des Monds, jedoch im Herbst und Winter mit mehrerer Heftigkeit als im Frühling und Sommer. Ich hatte eine unruhige Neubegierde etwas von dem zu sehen, was man von ihm erzählte; und hatte es mit seinem Kammerdiener, der mir Wunderdinge von ihm erzählte, abgeleget, daß er mir Nachricht geben sollte, wenn er dieses lustige Haushalten führen würde.


Man setzte sich an einem Abend zu Ende des Octobris nach Tisch zu verschiedenen Spielen; der Herr Agostino spielte wie die andern; gieng darauf weg und legte sich schlaffen: gegen eilf Uhr kam der Kammerdiener und meldete uns, daß sein Herr in dieser Nacht auf seine Wanderschaft gehen würde, und daß wir kommen, und ihn sehen und beobachten sollten. Ich sahe ihn lang mit dem Licht in der Hand an. Er lag auf dem Rucken, und schlief mit offenen Augen, die aber starr und[143] ohne Bewegung waren, welches wie man sagte, ein sicheres Kennzeichen seines Anfalls ware. Ich begriffe seine Hände, die sehr kalt waren, und der Puls gieng so langsam, daß sein Blut kaum zu circuliren schiene. Wir spielten inzwischen im Bretspiel, und erwarteten die Eröfnung dieses Schauspiels. Ohngefähr um Mitternacht zog der Herr Agostino die Vorhänge von seinem Bett plötzlich weg, stund auf und kleidete sich sehr nett an. Ich näherte mich ihm, und fand, da ich ihm den Hut unter die Nase gestossen hatte, daß er mit offenen Augen unempfindlich und unbeweglich war. Er nahm, ehe er seinen Hut aufsetzte, seine Degenkuppel, aus welcher man aus Furcht eines widrigen Zufalls den Degen weggenommen hatte; dann die Herren Nachtwanderer stossen bisweilen wie die Unsinnigen rechts und links um sich. In diesem Anzug gieng der Herr Agostino einigemal in dem Zimmer auf und nieder, näherte sich dem Feuer und setzte sich in einen Lehnsessel, gleich darauf gieng er in ein Cabinett wo sein Felleisen war, suchte in selbigem lange Zeit herum, warf alles untereinander, und nachdem er endlich alles wieder ordentlich an Ort und Stelle geleget hatte, schloß er sein Felleisen wieder zu, steckte den Schlüssel in seine Tasche, und zog einen Brief aus selbiger heraus, den er an das Eck des Camins legte; darauf begab er sich zur Thür, machte solche auf,[144] und gieng die Treppe hinunter. Als er ganz unten war, und einer von uns etwas stark fiele, schien der Herr Agostino darüber zu erschrecken, und verdoppelte seine Schritte. Sein Kammerdiener erinnerte uns, daß wir etwas leiß gehen und nichts reden mögten, weil er öfters rasend würde, wenn sich das in der Nähe um ihn befindliche Geräusch mit seinen Träumen vermischte, und er alsdann bisweilen aus allen Leibeskräften anfienge zu laufen, als wenn man ihn verfolgete.


Er marschirte den ganzen Hof durch, der sehr groß war, und gieng gerad auf den Stall zu, gieng hinein, streichelte sein Pferd, zäumte es an, und wollte es satteln; da er aber den Sattel nicht an seinem gewöhnlichen Ort fande, schien er ganz unruhig, und wie ein Mensch, der sich in seiner Rechnung betrogen findet, zu seyn. Er setzte sich zu Pferd, sprengte in vollen Lauf bis an die Hausthür, da er solche versperret fande, stieg er ab, nahm einen Stein und schlug zu wiederholtenmal an die Thorflügel. Nachdem er sich einigemal vergebens bemühet hatte das Thor zu eröfnen, stieg er wieder zu Pferd, ritte an den Tranktrog, der in dem andern Ende des Hofes war, und ließ es sauffen, bande das Pferd an eine Säule, und gieng wieder ruhig in sein Quartier. Bey einem Geräusch, welches die Bedienten in der Küche machten, wurde[145] er sehr aufmerksam, näherte sich der Thür, und horchte mit dem Ohr an dem Schlüsselloch; darauf begab er sich eiligst auf die andere Seite; gieng in einen Saal, wo ein Billard stunde, gieng um solchen einigemal herum und machte alle Bewegungen eines Spielers; von da gieng er weg, that etliche Griffe auf einem Klavizimbel, das er sehr geschickt spielte, und machte einige Zeit lang ein unordentliches Geklemper darauf. Endlich, nachdem er zwey ganze Stunden lang allerhand Beschäftigungen vorgenommen hatte, gieng er wieder in sein Zimmer und legte sich ganz angekleidet zu Bett, in welchen wir ihn des folgenden Morgens um neun Uhr vormittags, noch in eben dieser Stellung antrafen, wie wir ihn verlassen hatten; dann er schlief allezeu acht bis zehen Stunden nach einander fort, wann er seinen Anfall bekame.


Sein Kammerdiener sagte uns, daß man seine Anfälle nur durch zweyerley Mittel endigen könne; da man ihm entweder leiß an der Fussohlen kützeln, oder mit einem Waldhorn oder Trompette vor seinen Ohren blasen müste.


Mel. d'hist. et de litt. par Vigneul Marville, tom. 2. p. 261.

Quelle:
[Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine] : Medicinische Anecdoten. 1. Theil, Frankfurt und Leipzig 1767 [Nachdruck München o. J.], S. 142-146.
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