16

[194] Die Eisenbahnfahrt dauerte nur wenige Stunden. Schon um zwölf Uhr mittags waren die Reisenden auf der Station angelangt, wo der Wagen aus Rondsperg ihrer wartete – eine grüne Kalesche auf Schneckenfedern, mit schmalem Kutschbock, der in der Luft zu schweben schien. Freundlich grinsend begrüßte der Kutscher die Damen und hob sie in den Wagen. Mit Hilfe zweier Volontärs, die ihre Dienste angeboten hatten, band er sodann den Koffer des Fräuleins und die Reisetaschen ihres Gefolges auf das Trittbrett fest und schwang sich auf seinen luftigen Sitz. Die Volontärs forderten eine unverschämte Entlohnung für ihre Mühewaltung, Regula machte ein saures Gesicht, murmelte etwas von »idyllischen Zuständen«, bezahlte, und die Equipage setzte sich in eine halb wiegende, halb schaukelnde Bewegung, die Röschen entzückte. Trotz der Abmahnungen ihrer Tante stand sie auf, kniete auf dem Rücksitze des Wagens nieder, lehnte sich an den Kutschbock und begann ein eifriges Gespräch mit dem Rosselenker. Er war ein alter Mensch mit krummem Rücken, trug einen weitläufigen Rock aus grobem grauem Tuch und auf dem Kopf einen hohen Zylinder, den er trotz des schönen Wetters unter den Schutz eines Überzugs aus Wachsleinwand gestellt hatte, dessen Bändchen ihm gemütlich um die Nase baumelten.

Regula hatte sich anfangs sehr unwirsch über die Hitze geäußert, sich aber doch nicht entschließen können, den grünen Gazeschleier zu lüften, unter dem sie beinahe erstickte. Zuletzt kam sie in so üble Laune, daß sie gar nicht mehr sprach, den Fächer dicht vor das Gesicht hielt und mit geschlossenen Augen sich in die Ecke des Wagens drückte, während Božena wie eine japanische Zofe einen großen Sonnenschirm über dem Haupte der Herrin ausgespannt hielt.

Röschen schwatzte indessen eifrig mit dem Kutscher weiter. Den Gegenstand ihres Gesprächs bildeten die zwei Braunen, die in bequem zottelndem Trabe das Gefährt hügelauf, hügelab zogen. Sie waren beide tief eingesattelt und hatten lange, abstehende Ohren, die sie unaufhörlich bewegten. Ihre Namen waren Kocka und Myška (Katze und Maus), und Florian hatte sie gewartet von ihrem ersten Lebenstage an bis zu dem ehrwürdigen Matronenalter, in dem sie jetzt standen. Er erzählte seiner aufmerksamen Zuhörerin, sie seien Schwestern, die eine sechzehn Jahre – Röschen rief: »Gerade wie ich!« –, die andere[194] siebenzehn Jahre alt, und beide besäßen erwachsene Kinder. Als so klug schilderte er seine Zöglinge, daß man wohl begriff, warum er es für überflüssig hielt, ihnen irgendwelche Leitung oder Ermahnung angedeihen zu lassen. »Die spinnen so fort«, sagte er, »wenn drauf ankommt, ganze Tog, hoben Weg in die Füß!« Lustig tanzten die Zügel auf den Kruppen der Braunen, als hätten sie nur den Zweck, ihnen die Fliegen zu verscheuchen. Wenn Myška, was regelmäßig geschah, sooft es bergab ging, stolperte, rief Florian mit geheuchelter Verwunderung: »Oho?!«

Röschen meinte, die Fahrt habe kaum begonnen, als sie sich schon ihrem Ende nahte. Man war am Ausgange eines Wäldchens aus Laub- und Nadelholz angelangt. Florian richtete sich so gerade auf, als die Beschaffenheit seines Rückens es erlaubte, deutete mit der Peitsche auf ein großes, viereckiges Gebäude, das inmitten der Felder vor einem langgestreckten Dorfe lag, und sprach, die Brust von Stolz geschwellt, das Haupt auf die Seite geneigt, über die Achseln zu Röschen: »Rondsperg!«

Nun wurde ein schmaler Feldweg eingeschlagen, der sich so wunderlich krümmte und wand, daß es schien, als führe er statt in die Nähe des Reisezieles weitab von ihm. Kocka und Myška wußten das aber besser. Sie stießen einander mit den Köpfen an und ließen ein gedämpftes Wiehern vernehmen, ohne Übermut, aber voll Zufriedenheit. Jedes Kind mußte verstehen, daß sie sagten: Wir sind zu Hause!

Jetzt fuhr der Wagen über eine Hutweide, auf der einige Kühe ihr Futter suchten, aber nicht fanden, wie ihre eingefallenen Flanken und ihre schlotternden Euter bewiesen. Florian rang mit sich selbst, ob er etwas oder nichts sagen sollte. Nach einer Weile entschloß er sich zu ersterem und erklärte in bedauerndem Tone: »Herrschaftliche Viech!« –

Doch rasch, als gälte es, den unliebsamen Eindruck, den seine Worte hervorgebracht haben mochten, schleunigst zu verwischen, streckte er den Arm mit der Peitsche aus, beschrieb einen Bogen, der den halben Horizont umfaßte, und sprach: »Herrschaftliche Grund!«

Ein unabsehbares Heer aufgescheuchter, mit den Flügeln schlagender Gänse begrüßte die Ankömmlinge mit lautem Geschnatter. Ohne sich davon beirren zu lassen, liefen die Braunen über eine breite, geländerlose Brücke, welche die Ufer eines seichten, sanft dahingleitenden Bächleins miteinander[195] verband, und einer Allee von überständigen, meist gipfeldürren Pappeln zu, an deren Ende die Einfahrt zum Schlosse sichtbar wurde. Es war dies ein gemauerter Bogen zwischen zwei steinernen Säulen, auf denen verwitterte Unholde hockten, die unförmigen Tatzen auf Wappenschilder gestützt, deren Embleme nicht mehr sichtbar waren. Die Pferde lenkten ein, der Wagen rasselte über das Pflaster des Schloßhofes und hielt unter der Einfahrt. Nachdem Florian aus allen Kräften mit seiner Peitsche geschnalzt hatte, erschien ein Diener in einem flatternden Zwilchkittel, öffnete den Wagenschlag und half den Damen beim Aussteigen. Božena machte sich, von Florian auf das bereitwilligste unterstützt, mit der Bagage zu schaffen, Regula und Röschen traten in die Halle. An beiden Seiten derselben befanden sich hohe verhangene Glastüren; eine Doppeltreppe, dem Eingange gegenüber, führte zu dem ersten Geschosse empor. Die Bildhauerarbeit an der Steinrampe und die Stukkaturen an den Wänden waren so oft übertüncht worden, daß es kaum mehr möglich war, ihre ursprünglichen zierlichen Formen zu erkennen.

Vom Korridor her kamen der Graf und die Gräfin herbei und blieben, ihre Gäste erwartend, auf dem obersten Treppenabsatze stehen. Regula beschleunigte ihre Schritte nicht; langsam stieg sie hinan, warf schräge Blicke um sich und dachte: Ärmlich! ... Ärmlich! – Voll peinlicher Ungeduld folgte Röschen der Tante und flüsterte ihr zu: »Sie warten, die alten Leute warten!«

Endlich vor dem Paare angelangt, machte Regula eine tiefe Reverenz, der Graf erwiderte sie freundlich mit entblößtem Haupte, die Gräfin verbeugte sich mehrmals nacheinander; rasch und, wie es schien, unwillkürlich bewegten sich ihre Lippen. –Wehmütig ergriffen von dem Anblick der alten Frau, trat Röschen auf sie zu und küßte ihre Hand. Der Graf bot der Tante seinen Arm, die Gräfin nahm den der Nichte, und so geleiteten sie ihre Gäste zu den ihnen bestimmten Gemächern. An der Schwelle blieb der Hausherr stehen und sprach: »Es ist alles zu Ihrem Empfange bereit, treten Sie ein, meine Damen.«

Die Hausfrau stammelte einige Worte der Entschuldigung und bat, vorliebzunehmen.

Unzufrieden unterbrach sie ihr Gemahl: »Ohne Komplimente! Nicht wahr, meine Damen? – Lassen Sie sich's bei uns gefallen. In einer halben Stunde wird die Tischglocke das Zeichen zur Tafel geben. Auf Wiedersehen!«[196]

Die Zimmer, welche die Ankömmlinge bezogen, waren groß und kahl: sie boten die Aussicht auf den Teich des Dorfes und auf einen Teil des verwilderten Parks. Ein kleineres, an das Röschens anstoßendes Zimmer war für Božena bestimmt.

Regula ließ sich von dieser ankleiden und fragte spöttisch: »Wie gefällt es Ihnen hier? – Ein hübsches Haus? – Ein hübscher Park?«

Dabei rieb sie sich die Hände mit Mandelkleie und sagte zu sich selbst: Das wird anders werden.

Sie hatte ihre Toilette eben beendet, als eine heisere Glocke ertönte und derselbe alte Diener, der sie am Wagen begrüßt hatte, die Meldung brachte, die Suppe sei aufgetragen.

Der »Lakai« war jetzt mit einem Frack nach der Fasson des Rondsperger Schneiders angetan. Er hatte ein weißes Tuch um den Hals geschlungen und trug Gamaschen, aber keine Handschuhe. Die Wappenknöpfe, die auf seiner Kleidung angebracht waren, mochten wohl einmal versilbert gewesen sein.

Mit einer gewissen nachlässigen Grazie geleitete der Edle, sich von Zeit zu Zeit umsehend, ob sie ihm auch folgten, die Damen in den Salon. Der lag in der Mitte des Gartenflügels, hatte fünf Fenster und den Umfang einer mäßig großen Reitschule. An den Wänden ließen sich die Spuren einer äußerst feinen und zarten Malerei entdecken und Reste von Vergoldung an der weiß lackierten Einrichtung im Stile des Kaiserreichs. Über einem Kanapee, auf dem sechs Personen bequem Platz gefunden hätten, hing das Brustbild der Mutter des alten Grafen. Sie war als Hebe gemalt und nur mit einer roten Echarpe aus durchsichtigem Stoff bekleidet. Regula, deren Auge sich zufällig zuerst auf sie gerichtet hatte, dachte mit stillem Entsetzen: Die Hebe wird verbrannt! – Und doch war dieses Bild das einzige in dem ganzen Gemache, das nicht mit grausamer Beredsamkeit von Verfall sprach. Die blauen Seidenüberzüge der Möbel, so matt und glanzlos und so vielfach geflickt, die kunstvoll geschnitzten Trophäen über den Fenstern und Türen, die einst kostbare Vorhänge getragen hatten und jetzt so nutzlos in ihren eisernen Haken hingen, an den Pfeilern die halb erblindeten Spiegel, die traurig all diese verblichene Pracht widerstrahlten, wie deutlich bezeugten sie den Gegensatz, der hier herrschte zwischen einst und jetzt!

Am Eingange des Saales stand das greise Ehepaar, wie es im Treppenhause gestanden hatte. Er zufrieden und selbstbewußt;[197] sie kummervoll und beschämt. In respektvoller Entfernung hielt sich ein großer alter Mann mit derben Zügen, das dichte graue Haar über der Stirn zu einer Schnecke zusammengedreht, einen goldenen Siegelring auf dem knochigen Zeigefinger. Er wurde von dem Hausherrn als »mein Burggraf« vorgestellt, und man begab sich zu Tische. Die Gräfin selbst servierte eine safrangelbe Suppe, und Peter trug mit großer Geschäftigkeit die gefüllten Teller umher und schien sich nichts daraus zu machen, wenn sein heißer Inhalt seine Daumen umspülte.

Ein bäurischer Gesell, Peters Gehilfe, den dieser seit langem mit wenig Geduld und wenig Glück in die Geheimnisse seines Berufes einzuführen suchte, schlich hinter ihm her. Peter kommandierte ihn mit Blicken, Winken und halblauten Anrufungen, wovon eine – sie lautete: »Du Roß!« – vom Grafen überhört wurde, die Gräfin in Schrecken versetzte, Regulas Indignation erweckte und den Burggrafen ergötzte.

Auf dem Tische stand prachtvolles Obst in Schalen aus Sevresporzellan und dazwischen ein Bronzeaufsatz; wunderbare Arbeit aus der besten Florentiner Zeit, ein Kunstwerk von hohem Werte.

Regula nahm sich vor, heute noch an Wenzel zu schreiben, im Kaufvertrage sei der Punkt, der von der Erwerbung des Schlosses samt Mobiliar handelt, ganz besonders zu betonen.

Und sie sprach: »Ein bewunderungswürdiger Tafelschmuck! – Die Figuren sind vorraffaelisch gedacht und könnten wohl von Donatello oder von Bruneleschi ausgeführt sein, wenn nicht gar von Ghiberti – ja, ich würde es sogar wagen, sie Benvenuto Cellini zuzuschreiben.«

»Sie sind Kennerin!« antwortete der Graf vergnügt. »Ich hatte keine Ahnung von dem Werte dieses Dings. Ein Schurke von Antiquar, der hier herumreist und die Schlösser unter dem Vorwande bestiehlt, er wolle Einkäufe machen für Sabatier in Paris, hat viele tausend Francs dafür geboten. Aber wir pflegen nicht Handel zu treiben, und ich gab Befehl, den Mann an die Luft zu setzen. Unter anderm« – sprach der Greis lebhaft zum Burggrafen –: »Ist es geschehen? Ich vergaß bisher, danach zu fragen: Ist es geschehen?«

Der Burggraf verneigte sich und erwiderte: »Sozusagen, gräfliche Gnaden.«

Während die Suppe gegessen wurde, stand Peter mit verschränkten Armen am Kredenztische und warf unverschämte Blicke auf die beiden Fremden. Dabei dachte er: Nun, ihr Weinhändlerinnen,[198] gefällt es euch bei uns? Habt ihr in eurem Leben schon etwas dergleichen gesehen? ... Was sagt ihr dazu?

Dann servierte er weißes ausgekochtes Rindfleisch auf silberner Schüssel und Kohlrüben in einer blauen Kasserolle mit abgebrochenem Henkel.

Der Hausfrau standen Schweißtropfen auf der Stirn, der Hausherr war in der muntersten Laune, und als Peters Adlatus eine der Sevresschalen fallen ließ und diese zerbrach, sagte der Graf: »Es tut nichts; mein Peter repariert das wieder. Nicht wahr, Peter?«

Peter zog den Mund so schief, als wollte er sich in das Ohr beißen, und antwortete: »Jo.«

Der Graf sprach mehrmals von Ronald, doch geschah dies immer in gereiztem Tone. Er stellte selten eine Behauptung auf, ohne hinzuzufügen: »Mein Sohn ist andrer Meinung.« Er bedauerte, daß Ronald nicht anwesend sei, um den Damen die Honneurs von Rondsperg zu machen – aber: »Mein Sohn ist niemals da, wo er sein sollte.«

»Er kommt morgen«, warf die Gräfin ein.

Ohne Notiz von den Worten seiner Frau zu nehmen, erklärte der Greis seinen Gästen, warum er sie nicht begleiten könne bei den kleinen Ausflügen in die Umgebung, die er ihnen zu unternehmen riet. Er hatte die Grenzen des Parks seit dem Jahre achtundvierzig nicht mehr überschritten, denn er wollte sich nicht der Möglichkeit aussetzen, einem Bauern zu begegnen, der sich vielleicht besänne, ob er den Hut vor ihm abziehen solle, oder gar einem, der ein Gewehr auf dem Rücken trüge. »Wenn man zu alt ist, die Anarchie zu bekämpfen, muß man zum mindesten gegen sie protestieren. Mein Sohn freilich verträgt sich mit ihr«, setzte er achselzuckend hinzu.

Nach dem Speisen begab man sich in den Garten. Der Kaffee wurde auf der Terrasse getrunken, die den Gartenflügel des Schlosses umgab und zu der man durch die Halle und eine Salle à terrain gelangte, welche einst, ihrer kühlen Lage und freundlichen Aussicht wegen, als Sommerspeisesaal gedient hatte.

Von der Terrasse aus überblickte man einen Teil des Parks, der allen Anforderungen, die Jean Jacques Rousseau an einen solchen stellt, auf das vollständigste entsprach. Ringsum dehnte sich das fruchtbare, wohlgepflegte Land. Da war jedes Fleckchen ausgenützt, jeder Wegrain mit Obstbäumen bepflanzt. Schwerlich hätte ein Maler sich hier seine »Motive« geholt; die charakterlosen Hügel in der Nähe, die grüne Bergesreihe, die[199] den Horizont mit einer fast geraden Linie abschloß, konnten auf Schönheit keinen Anspruch machen, aber herzerfreuend wie die Großmut, wie die Dankbarkeit war der Anblick des tausendfachen Segens, mit dem dieser Boden die Sorgfalt lohnte, die ihm zuteil wurde von Menschenhand.

Der Graf blieb neben Regula stehen und sah sie erwartungsvoll an. Sie schwieg und – schwieg.

Er sprach endlich mit Ungeduld: »Was sagen Sie zu meiner Aussicht?«

Regula liebte es nicht, interpelliert zu werden. Mit steifer Haltung und einem bösen Lächeln antwortete sie: »Wenn ich gleich Ihnen, Herr Graf, mit Polykrates sprechen dürfte: ›Dies alles ist mir untertänig‹, würde ich ohne Zweifel finden, daß Ihre Aussicht schön sei.«

Röschen hatte sich stumm neben die Gräfin gesetzt und versank ganz und gar in Bewunderung. – So große Weizenfelder, das ist ja eine Pracht! Und wie der Wind spielend darübergleitet und sanfte Wellen sich bilden, die jetzt wie Silber schimmern und jetzt wie Gold. Der Schatten einer Wolke kommt geflogen und spiegelt sich in diesem Meere von Ähren. Neben den gelben Feldern stehen grüne, dazwischen farbenprächtige Mohnblumenbeete, sie würden einen Garten schmücken! An der Ecke der Parkmauer, wo der Weg in das Dorf führt, erheben sich drei uralte Linden, ihre Zweige sind so dicht verschlungen, daß sie zusammen nur eine Krone bilden – eine Riesenkuppel über dem heiligen Johannes aus Stein, der sein graues Haupt zu dem Kreuz in seinem Arm demutvoll niederbeugt.

Die vom Acker heimkehrenden Weiber, mit schweren Grasbündeln auf dem Rücken, steigen, so müde sie sind, doch die Stufen des Standbildes hinan und küssen den halbverlöschten Namen Jesu auf seinem Sockel. Desgleichen tun die alten Bauern, und ihre aufgeklärteren Söhne entblößen zum mindesten das Haupt vor dem Schutzpatron des Dorfes. – Die Sonne neigt sich zum Untergange, immer einsamer wird es auf den Wegen, nur einzelne Nachzügler kommen noch langsam einhergeschritten. An ihnen vorbei galoppiert eine Schar kleiner Jungen mit nackten Beinen; sie reiten die Pferde von der Hutweide nach Hause unter Hurra und lautem Geschrei ...

Röschen möchte mit ihnen jauchzen, so seelenvergnügt fühlt sie sich. Sie sieht die Augen der Gräfin mit dem Ausdruck so innigen, so mütterlichen Wohlgefallens auf sich gerichtet. Ach,[200] könnte sie etwas tun für die arme alte Frau! ... Aber sie kann nichts tun, als sich zu ihr neigen und sagen: »Wie schön ist es bei Ihnen!«

Die Greisin streichelt ihr sanft die Wange – der alte Herr blickt schalkhaft zu ihr hinüber und droht ihr mit dem Finger: »Oh – o diese Augen! Werden die noch Unheil genug in der Welt anrichten? ... Sehen Sie mich nicht an, Fräulein von Fehse – sehen Sie mich nicht an!«


Am nächsten Morgen, in aller Gottesfrühe, war Röschen schon im Garten, und zu Mittag lag schon – niemand wußte, durch welche Zauberkünste – das Kindervolk im ganzen Umkreise des Schlosses in ihren Fesseln. Die zwei »Jüngsten« des Maiers und das »Allerjüngste« des Schmiedes und die »Sämtlichen« des Gärtnergehilfen liefen hinter ihr her wie Hündlein. Eine kleine, kugelrunde Anitschka mit kurzem Näschen und roten Pausbacken pflanzte sich vor dem Schloßtore auf, als Röschen darin verschwunden war, und ließ sich so wenig wie eine treue Schildwache von ihrem Posten vertreiben. Sobald der Gegenstand ihrer Leidenschaft wieder erschien, machte sie eine dicke Lippe, ergriff eine Falte von Röschens Kleid und watschelte so resolut neben ihr her, als hieße es nun: Durch Not und Tod!

Während Röschen die Jugend bezwang, eroberte Božena das Alter. Gleich bei ihrer ersten Begegnung mit ihm hatte sie des alten Grafen Gunst errungen. Er erklärte sie sofort für eine der gescheitesten Personen, die ihm jemals vorgekommen seien. Sie mußte sich nachmittags auf der Terrasse einfinden und die Aussicht bewundern. Zufällig – dieser Zufall traf immer ein, sobald der Greis zehn Worte mit einem fremden Menschen gewechselt hatte – kam das Gespräch auf die Ereignisse des Jahres achtundvierzig. Božena erzählte, durch seine Fragen gedrängt, von ihrem Aufenthalte in Ungarn, von ihrer Wanderung durch das kaum niedergeworfene Land. Der Graf – honneur aux dames! – forderte sie auf, sich zu setzen, und als Božena diese Zumutung, als könne sie nur im Scherze gemeint sein, lächelnd ablehnte, nahm der alte Herr seinen Hut ab und legte ihn neben sich auf die Bank.

Beim Abendessen sprach er mit Regula mehrmals von ihrer Magd: »Eine Libussa, Ihre – wie heißt sie? ... Eine Fürstin Libussa! ... Eine solche Dienerin macht der Herrin Ehre. Auf Ihr Wohl, mein Fräulein!«

Er leerte ein Glas sauern Landweins mit einem solchen[201] Behagen, als verwandle er sich auf seiner Zunge in den edelsten Johannisberger.

Regula hatte den Nachmittag ihrer Korrespondenz gewidmet. Sie schrieb einen langen Brief an Wenzel und einen nicht viel kürzeren an Mansuet. Dem letzteren trug sie Grüße auf an alle ihre Bekannten und Verehrer. In der langen Liste der angeführten Namen fehlte nur der des Professors Bauer. Von diesem Getreuen erwartete sie schon mit der morgigen Post einen Brief, den zu beantworten sie sich vornahm.

Ihr letzter Gedanke, als sie ihr Haupt auf das Kissen ihres dürftigen Lagers legte, war an ihn: Was wird er sagen, wenn er von meiner Verlobung hört? ... Der Arme – vielleicht erschießt er sich!


Es war Sitte auf Schloß Rondsperg, um neun Uhr zur Ruhe zu gehen. Drei Stunden vor Mitternacht mußte der Graf geschlafen haben, sonst hatte er, seiner Meinung nach, nicht geschlafen. Um zehn Uhr durfte eigentlich kein Licht mehr im Hause brennen. So war denn auch heute alles still und dunkel, als Ronald langsam in den Schloßhof ritt. Nur an einem Fenster schimmerte noch ein matter Lichtschein wie der von einer verdeckten Lampe. Zu diesem blickte Ronald eine Weile sinnend und zögernd empor, dann faßte er einen raschen Entschluß, übergab seinen Klepper – einen Sohn der Myška – dem herbeieilenden Florian und trat einige Minuten später, nach leisem Pochen, in das Schlafzimmer seiner Mutter.

Die alte Frau saß noch angekleidet vor dem Arbeitstischchen im Fenster. Vor ihr auf dem Nähkissen lag ein zerlesenes Buch: Albachs »Heilige Anklänge«. – Bei dem Anblick ihres Sohnes fuhr sie erschrocken zusammen; er bemerkte es wohl und sprach beklommen: »Sie sind noch auf, gute Mutter ...«

»Ich werde sogleich Nacht machen – wollte nur noch –« wie entschuldigend wies sie auf das Buch, »ein wenig beten.«

»Der Vater schläft?«

»Seit einer Stunde.« Sie wagte nicht, ihn anzusehen; ein Gefühl peinlicher Furcht hatte sie ergriffen, das echt weibliche Gefühl der Furcht vor der Entscheidung. O ging er wieder! ... O spräch er nicht! dachte sie und sagte: »Es ist spät.«

Ronald blieb trotz dieses Winkes. Er holte einen Stuhl aus der Ecke des Zimmers und setzte sich seiner Mutter gegenüber.

»Wir haben Gäste?« fragte er.

»Ja. Und – die kleine Waise«, fügte sie mit Lebhaftigkeit[202] hinzu, »welch ein holdes Geschöpf! ... Ein Herzenslabsal, dieses Kind ...«

»So?« entgegnete Ronald zerstreut und suchte vergebens nach Worten. Auch er hatte die Augen gesenkt und sah die Hände seiner Mutter in ihrem Schoß beben; und diese welken, hilflosen Hände raubten ihm den Mut, brachten ihn um seine Entschlossenheit.

Mutter und Sohn wandelten seit Jahren fast stumm nebeneinander. Was am schwersten auf ihnen lastete, darüber durften sie nicht sprechen, denn es hätte zur Klage geführt über den Gatten, den Vater, und Sorglosigkeit zu heucheln vermochten sie nicht.

Bei ihrem Manne und bei der Tochter, die in ihrer Nähe lebte, hatte die Gräfin es endlich aufgegeben, Verständnis zu suchen; allzu verschieden von ihr waren sie geartet. Durch mehr als vierzig Jahre konnte sie es täglich erfahren: Sie lieben mich, aber sie kennen mich nicht. Von der zweiten, ihrer Lieblingstochter, war sie durch die Verhältnisse getrennt. Jahre verflossen, ohne daß sie ihres Anblicks froh wurde, Monate, ohne daß Nachrichten von ihr eintrafen. Alle an seine Frau gerichteten Briefe gingen durch des Grafen Hände, er bemerkte es mißbilligend, wenn die Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter zuzeiten etwas lebhafter wurde.

»Eine glückliche Frau hat nichts zu schreiben«, meinte er, »und glücklich zu sein ist die Pflicht einer jeden, die einen braven Mann hat.«

Es war endlich dahin gekommen, daß die Gräfin nur noch mit Bangen dem Erscheinen der Briefe entgegensah, nach denen sie doch zugleich so sehnsüchtig verlangte.

Ronald saß mit gekreuzten Armen da, starrte vor sich hin und dachte: Könnt ich ihr's ersparen!

Zu drückend wurde dieses Schweigen; die alte Frau unterbrach es mit der Frage: »Du gehst doch morgen auf die Jagd?«

Er nickte wie gequält: »Gewiß – gewiß.«

Seine Stimme klang so seltsam; die Gräfin blickte besorgt zu ihm empor und sah in sein bekümmertes Gesicht. Jeder seiner Züge verriet den Kampf seines Innern – ein bitterer Vorwurf gegen sich selbst, gegen ihr feiges Zagen vor dem eingestandenen Leid regte sich in ihr. Du armes Kind, dachte sie, und das Mitleid mit dem Sohne gab der Schwachen Kraft, mit einemmal das Schwerste und mit wenigen Worten alles zu sagen: »Ronald – Lieber – sprich getrost. Wann müssen wir wegziehen von hier?«[203]

Aufatmend ergriff er mit beiden Händen die Hand, die sie ihm reichte, und rief: »Niemals, gute Mutter! Sie werden Rondsperg nie verlassen!«

»Wie kann das sein, da wir's doch nicht behaupten können?«

»Der Kauf wird nur unter der Bedingung geschlossen, daß Sie hier fortleben genau wie bisher.«

Die Greisin schüttelte bedenklich den Kopf: »Wenn diese Bedingung angenommen wurde, dann hast du sie teuer bezahlt ...« Er wollte verneinen. »Leugne nicht«, sprach sie, »es kann nicht anders sein ...«

»O Mutter«, fiel er ihr mit erzwungener Heiterkeit ins Wort, »Fräulein Heißenstein verzichtet gern auf das Glück, in unserm alten Neste zu wohnen.«

»Es wird mehr von ihr verlangt als nur das. Sie darf die Rechte, die sie erwirbt, nicht geltend machen, wenn wir hier – wie du sagst – fortleben sollen wie bisher.«

»Auch dazu ist sie bereit.«

»Weil ihr Vorteil es ihr rät. Nicht wahr? ... Nicht wahr?« wiederholte sie angstvoll. »Du hast dein Eigentum verschleudert, damit zwei alte Leute ihre letzten Jahre in altgewohnter Weise hindämmern können!«

»Verschleudert? Was du nur denkst? Darüber mache dir keine Sorgen.«

Sie seufzte schmerzlich: »Unser Alter zehrt deine Jugend auf ... Ständ es bei mir, das sollte nicht geschehen. Dürft ich sprechen, ich würde dich anflehen, Kind: Vergeude nicht länger dein Leben! – Geh, tausendmal gesegnet – gründe dir eine Zukunft und laß zusammenstürzen, was morsch und reif zum Untergang ist – der Wechsel alles Irdischen verlangt sein Recht.«

Er wollte sich der Rührung erwehren, die ihn ergriff, und entgegnete: »Wie beredt ist meine Mutter heute geworden! Und wozu? – Um zu sagen, was sie nicht sagen darf.«

Ein leuchtendes Lächeln verklärte ihre Züge: »Beredt – ja. Bin ich nicht wie eine alte Harfe mit zerrissenen Saiten, die auf einmal zu klingen beginnt? Es ist ein Wunder – ein gar vergängliches. Weil mir aber die Zunge gelöst ist, so höre, Sohn, deine stumme Mutter sieht und zählt jeden Schweißtropfen auf deiner lieben Stirn, jeden unterdrückten Widerspruch, jedes still und freudig gebrachte Opfer ...«

Plötzlich beugte sie sich nieder und preßte ihre Lippen auf seine Hand.[204]

Im selben Augenblick lag er auf seinen Knien und schloß mit ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit die gebrochene Gestalt in seine Arme ...

»Und Sie, Mutter?« flüsterte er, »leiden Sie nicht auch?«

»Schweig, mein Kind!« mahnte sie und zog sein Haupt an ihre Brust. Und an diesem schweren Tage war ihnen beiden leichter ums Herz als seit langer Zeit.

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 2:] Kleine Romane, München 1956–1958, S. 194-205.
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