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[22] Graf Stephan führte denselben Familiennamen wie meine Gräfin, war ihr Vetter und der jüngste von acht Brüdern, die alle im kaiserlichen Heere dienten. Ihr Vater lebte noch, sie bezogen von ihm eine spärliche Apanage und waren von klein auf zum Waffenhandwerk bestimmt. Sie machten dem Beruf auch Ehre, hatten sich in den letzten Feldzügen durch ihre Tapferkeit und ihr kaltes Blut glänzend hervorgetan. Unser Graf Stephan stand seinen Brüdern nicht nach; ebenso tollkühn, aber weniger glücklich als sie war er als neunzehnjähriger Jüngling in der Schlacht von Caldiero durch einen Hieb über die Schulter verwundet worden. Eine Zeitlang blieb es zweifelhaft, ob er seine militärische Laufbahn je wieder werde aufnehmen können. Indessen kam es besser, als man anfangs gemeint hatte; er war jetzt hergestellt. Seine Verletzung hatte keine Folgen hinterlassen, eine geringe Steifheit der Finger seiner rechten Hand ausgenommen, die ihm jedoch um alle Schätze der Erde nicht feil gewesen wäre. Die Steifheit mein ich. Er paradierte damit, vergaß ihrer nie und sorgte dafür, sie den andern in Erinnerung zu bringen.

Einige Tage nach unsrer Ankunft erschien der Vetter der Gräfin auf dem Schlosse; er sollte nur eine Woche da verweilen und sich dann zu seinem Regiment begeben. Nun waren aber schon zwei Monate vergangen, und der junge Herr traf noch immer keine Anstalten zu seiner Abreise. Anka ärgerte sich darüber; sie konnte ihn nicht leiden, und wenn ich sie fragte, warum, antwortete sie; ›Ich weiß nicht – halt so – er ist so dumm.‹

Er war aber durchaus nicht dumm; er war ein liebenswürdiger, hübscher, unbedeutender Mensch, moralisch so schwach und zaghaft,[22] wie er physisch stark und mutig war. Anka gegenüber legte er eine Geduld und Nachsicht an den Tag, die für mich etwas Rätselhaftes hatte. Er ließ sich von ihr necken, mißhandeln, verspotten, er kam immer wieder, er war von allen Gästen ihrer Eltern der einzige, der sich um sie bekümmerte. Wir trafen ihn erstaunlich oft auf unsern Spaziergängen im Walde, und immer schloß er sich uns an, beschäftigte sich aber nur mit Anka und schien sich so gut mit ihr zu unterhalten, daß es mir nicht einfiel zu denken, ein andres Interesse als das an seiner kleinen Nichte führe uns den jungen Herrn fast täglich in den Weg. Allmählich jedoch mußte ich trotz aller Unbefangenheit innewerden, daß er mit mir kokettierte, daß die gute Laune, das kindliche Wesen, deren er sich befliß, die Geschicklichkeit und Kühnheit, mit der er für die Kleine eine Blume von steiler Felswand, einen Mistelzweig aus einer Baumkrone herabholte oder zu ihrem Ergötzen einen schäumenden Waldbach übersprang – doch nur von mir bewundert werden sollten. Einen Augenblick vielleicht – ich sage vielleicht, denn ich weiß es wirklich nicht mehr gewiß – schmeichelte mir diese Entdeckung; der bleibende Eindruck jedoch, den sie auf mich hervorbrachte, war der des Widerwillens. Naive Gefallsucht ist nur albern, man kann sie entschuldigen, sogar bei einem Manne; aber bewußte, berechnete Gefallsucht, die erschien mir immer verachtenswert, und ich fand nicht nötig, das dem jungen Grafen zu verbergen. Statt darüber in Zorn zu geraten, wurde er sentimental, begann den Gekränkten zu spielen und trieb großen Aufwand mit Seufzern und verschleierten Blicken. Niemals aber tat er eine Äußerung, die er nicht auch vor hundert Zeugen hätte tun oder die ihn hätte verhindern können, mich für verrückt zu erklären, wenn ich behauptet haben würde, er mache mir den Hof. Diese Vorsicht war überflüssig. Seiner Freiheit drohte durch mich keine Gefahr, und wie wenig mir daran lag, ihn in Bande zu schlagen, das erfuhr er später.

Ich habe Ihnen gesagt, daß der Graf seine Tochter fast regelmäßig in den Abendstunden zu sich rufen ließ und daß ich die Weisung hatte, sie zur Zeit ihres Schlafengehens abzuholen. Ich erwartete sie im großen Saale, wohin der Graf sie brachte, um sie persönlich meiner Obhut zu übergeben. Dabei sagte er mir immer ein paar freundliche Worte, wenn auch nur ganz eilig und kurz, denn seine Gäste folgten ihm gewöhnlich schon auf dem Fuße, da die Gesellschaft sich vor dem Souper im Saale versammelte.[23]

Eines Abends hatte ich mich, überpünktlich in meinem Eifer, nicht auf mich warten zu lassen, zu früh im Saale eingefunden. Er war noch unerleuchtet, und in dem mit Gobelins und dunkelm Getäfel versehenen Raum, den sogar das Tageslicht nicht völlig zu erhellen vermochte, herrschte jetzt im Zwielicht beinahe völlige Finsternis. Ich tappte mich zu meinem Platz in der Nähe der Tür, durch die der Graf einzutreten pflegte. Sie führte aus seinen Zimmern in den Saal, und ihr gegenüber lag der Eingang zu den von der Gräfin bewohnten Gemächern. Dann gab es noch zwei Türen, einander gleichfalls gegenüberliegend: die des Altans und eine, durch die man aus der Halle hereingelangte, in welche das Treppenhaus mündete. Nun denn, ich sitze eine Weile ganz ruhig und warte. Da ist mir plötzlich, als ob ich am andern Ende des Saales ein Geräusch vernähme und dort etwas sich regen sähe, das meine allmählich an die Dunkelheit gewöhnten Augen als eine hoch über das menschliche Maß hinausragende und doch menschliche Gestalt erkennen. Ich rufe sie an und schreite geradeswegs auf sie zu. Ängstlich und flüsternd antwortet sie mit einer Beschwörung, mich ruhig zu verhalten. Ich stehe jetzt dicht vor ihr, fasse sie am Kleide und überzeuge mich, daß ich es mit meiner Feindin, der Bonne, zu tun habe, die auf einen Schemel gestiegen ist, um ihr Ohr an das Schlüsselloch der hohen Flügeltür legen zu können, an der sie lauscht, die Abscheuliche!

›Herunter!‹ sage ich, ›herunter – oder ich rufe ...‹ Sie mußte gehorchen, stieg von ihrem Schemel, schob ihn weg und brummte: ›Ich kann ohnehin nichts mehr hören, sie sind ins zweite Zimmer gegangen; er bekam schöne Vorwürfe – Ihretwegen!‹

›Wer?‹ fragte ich bestürzt. ›Nun – wer?... Ihr Seladon!‹ zischelt sie, und im nächsten Augenblick: ›Still, er kommt!‹ und zerrt mich in die Nähe der Wand ... Die Tür, vor der wir eben gestanden hatten, öffnet sich, ein Mann durcheilt mit leisen Schritten das Gemach, die Balkontür wird vorsichtig aufgetan und wieder geschlossen ... Einige Sekunden vergehen, die energische Französin hat mich in die Mitte des Zimmers geführt und tut, während eben eingetretene Diener sich damit beschäftigen, die Kerzen an den Kronleuchtern und Girandolen zu entzünden, als ob sie mit mir ein eifriges Gespräch über Anka fortsetzte. Dann geht sie mit der unschuldigsten und heitersten Miene ihrer Wege. Ich vermochte nur sie anzustarren und zu schweigen. Was bedeutete der geheimnisvolle Vorgang? Wer hatte sich soeben aus dem Zimmer der Gräfin gestohlen wie ein[24] Dieb und stand jetzt auf dem Altan wie ein Ausgesetzter?... Er konnte nicht mehr in den Saal zurück, die Diener hatten den Eingang schon verriegelt und waren noch mit dem Herablassen der Vorhänge beschäftigt, als der Graf eintrat. Er führte Anka an der Hand und ersuchte mich, sie sogleich zu Bett bringen zu lassen, sie scheine nicht ganz wohl zu sein. Indessen war sie nur verdrießlich. Gewiß hatte Papa, ohne es zu ahnen – absichtlich tat er es ja leider nie –, ihr eine Laune durchkreuzt, und jetzt schmollte sie mit ihm. Und ihr Schmollen war etwas Widerwärtiges. Jeder Zug von Kindlichkeit verschwand dabei aus ihrem Gesicht, sie wurde ganz blaß, man konnte sie wirklich für leidend halten. – Dieser Zustand änderte sich wie auf einen Zauberschlag, sobald sie ihrem Vater aus den Augen kam, und als wir unsere Gemächer betraten, begann sie wie eine Rasende umherzutollen. Sie wollte noch spielen, wollte tanzen, wollte sich nicht auskleiden lassen, entwischte kreischend dem Stubenmädchen, das ihr nachrannte, und wurde in diesem Getreibe durch Francine unterstützt, die an der Tür stand mit ihrer Nachtlampe in der Hand und sich krümmte vor Lachen.

Ich machte zuletzt der Komödie ein Ende, indem ich meine wilde Hummel einfing und selbst ihre Toilette besorgte. Die Bonne erschwerte mir die Aufgabe und begann immer von neuem mit Anka zu scherzen. Zuletzt gelang es mir aber doch, die Kleine zu beruhigen, und als ihr Kopf auf dem Kissen lag, da schlief sie auch schon.

Klug wäre es nun gewesen, mit der Bonne, die sich noch immer in der Nähe hielt und mich zu beobachten und auf etwas zu warten schien, nicht mehr zu sprechen; doch war die Angst, von der ich gepeinigt wurde, zu unerträglich und die Art und Weise der Französin zu herausfordernd. Voll Entrüstung sagte ich, daß ihre Lustigkeit mich staunen mache. ›Warum‹, erwiderte sie, ›ich habe ja keinen Grund, mich zu kränken.‹ Ihr lederfarbenes Gesicht, das einst schön gewesen sein mochte, und ihre schwarzen Augen drückten eitel Bosheit aus, sie erging sich in Andeutungen und halben Worten, die ich nicht verstand. Plötzlich nahm sie eine freche Protektormiene an und raunte mir zu: ›Seien Sie ruhig. Ihr Vogel hat zwar keine Flügel, kann aber doch fliegen.‹

Wer denn ›mein Vogel‹ sei, fragte ich. Aber sie wollte mir nicht Rede stehen, erhob ihr widerwärtiges Gekicher und lief davon.[25]

In dieser Nacht habe ich wenig geschlafen, das weiß Gott! Sie eröffnete den Reigen der ›weißen Nächte‹, wie die Franzosen sagen, die mir in nächster Zukunft bevorstanden. Am folgenden Morgen, als ich mit Anka auf dem Wege zur Einsiedelei an dem Balkon vorüberkam, sah ich aufmerksam zu ihm hinauf und bemerkte, daß er von einem ziemlich breiten Mauervorsprung umgeben war, auf dem es sich allenfalls wegschreiten ließ. Aber von ihm aus wohin? Sich in die Blumen fallen lassen, die in weiches Erdreich dicht um das Haus gepflanzt waren, hätte sichtbare Verheerungen angestellt. Auf den harten Kiesweg herunterspringen von der Höhe des ersten Geschosses, wäre kaum ohne Beinbruch abgegangen; und im Sprung den Weg übersetzen und den Rasen erreichen – das schien unmöglich. So dachte ich und – stand im selben Augenblick vor zwei Fußstapfen, die, wie mit dem Prägstock eingeschlagen, am äußersten Rande des Grases sichtbar waren. Unheilvoll sichtbar, denn es hatte in der Nacht geregnet, und die beiden Vertiefungen bildeten ein paar kleine Wasserreservoirs. Ich beeilte mich, diese verräterischen Zeichen mit dem Stocke meines Sonnenschirmes zu verwischen. Erst als es vollkommen gelungen war, folgte ich Anka nach, die vorausgelaufen war und mir zurief, sie zu haschen.

Als wir den Grafen Stephan das nächstemal auf unserer Waldpromenade von weitem auf uns zukommen sahen, durchschauerte es mich, als ob ich ein giftiges Gewürm erblickt hätte, und ich sagte Anka, daß wir versuchen wollten, dem Onkel auszuweichen; es sollte ihm nicht gelingen, uns zu entdecken. Das war nun etwas für die Kleine! Da glänzten ihr die Augen vor Vergnügen, und sie entfaltete an dem und an folgenden Tagen die Pfiffigkeit und den Spürsinn eines Indianers. Wir sahen den Grafen Stephan von einem Hügel aus in einer Lichtung zu unsern Füßen jeden Heger und Jäger, dem er begegnete, anhalten, offenbar, um nach uns zu fragen. Wir sahen ihn aus unserm Versteck hinter einem Felsstück oder einem Gebüsch ratlos vorübereilen, hörten ihn fluchen und rufen, rührten uns nicht, und während er tiefer in den Wald drang, schritten wir dem Hause zu. Dieses Spiel konnte nicht lange fortgesetzt werden. Es war eine zu reiche Quelle der Schadenfreude für Anka. Ich dachte schon daran, ihm durch das Aufgeben unserer Spaziergänge überhaupt ein Ende zu machen, als eben jenes Ereignis eintrat, bis zu dem ich vorhin meine Geschichte geführt habe.[26]

An einem Vormittage war es. Wir hatten unsere Lektionen beendet. Anka machte sich in dem Puppengärtchen zu tun, das wir unter einer Ulmengruppe in der Nähe der Einsiedelei angelegt hatten; ich war mit dem Ordnen der Lehrsachen beschäftigt – da stand plötzlich Graf Stephan vor mir.

›Grausame!‹ sagte er leise im weichsten Molltone und sah mich mit dem allertraurigsten seiner Blicke an. Er hatte uns um diese Zeit und an diesem Orte noch nie aufgesucht, mein Schrecken über sein unerwartetes Erscheinen war im Anfang nicht gering, wurde aber bald durch die Empörung überwogen, die in mir aufstieg, als der junge Herr zu klagen begann, sein höchstes Glück sei ihm geraubt, er fühle sich elend, seitdem es ihm nicht mehr vergönnt sei, mich zu sehen, den Laut meiner Stimme zu hören und so weiter! Statt aller Antwort wandte ich mich und rief nach Anka. Da schrie der Graf laut auf, daß ich ihn mißhandle, daß er nicht verdiene, so gequält zu werden. – In dem Augenblick, in dem er begann die Stimme zu erheben, hörte ich die Glocke in der Einsiedelei anschlagen und dachte, Anka sei eingetreten, um, wie sie pflegte, den Turm zu ersteigen und in ungeduldiger Erwartung des Mittagessens nach Freund Peterl auszuspähen. Ich rief nochmals und nochmals – aber sie ... sah mich vermutlich, sah meine Ungeduld, hatte ihre Freude daran und antwortete um keinen Preis. Mir war abscheulich zumute in meinem Ärger über diesen Kobold von einem Kind und in der Angst, die mich allmählich vor dem jungen Herrn erfaßte, der mehr und mehr den Kopf verlor und im Begriff schien, sich aus einem girrenden in einen sehr kecken Ritter zu verwandeln. Doch war ich viel zu hoffärtig, um etwas von meiner Unruhe zu verraten, und schritt ganz langsam der Tür zu, die sich auf der andern Seite des Hauses befand. Graf Stephan folgte mir Schritt für Schritt. Er sprach nur noch von Liebe und Seligkeit oder Verzweiflung und Tod.

Endlich bogen wir um die Ecke, und der Anblick der offenstehenden Tür der Einsiedelei, in der ich Anka vermutete, erfüllte mich mit all der Unverzagtheit, die ich bisher nur geheuchelt. Mein Verfolger hatte mich vergeblich um ein Wort, ein einziges Wort beschworen, jetzt sprach ich deren mehrere, und ich glaube, lieber als diese war ihm mein früheres Schweigen. Wenigstens stockte der Strom seiner Beredsamkeit plötzlich, und als ich nun wagte, ihm ins Gesicht zu sehen, erblickte ich darin den Ausdruck der peinlichsten Überraschung und Beschämung. Ich eilte vorwärts, ich war am Ziel, setzte den Fuß[27] auf die Schwelle und – prallte erschrocken zurück ... Die Gräfin trat mir entgegen ...

Liebe Freundin, ich war damals neunzehn Jahre alt und heute bin ich siebzig, aber ich brauche nur zu wollen und ...« die Hofrätin streckte den Arm aus und blickte mit weitgeöffneten Augen vor sich hin – »da steht sie! deutlich wie in jener Stunde. Da steht sie, schrecklich und wunderschön in ihrem weißen Sommerkleide und der griechischen Frisur, die so gut zu ihrem klassischen Profil paßt und die edle Form des kleinen Kopfes und des schlanken Nackens so herrlich zur Geltung bringt. Ja, wunderschön, aber nicht wie eine Lebendige, sondern wie eine Tote, der man vergessen hat, die Augen zu schließen. So starrt sie mit unbeweglichem und glanzlosem Blick den an, der bei ihrem unerwarteten Erscheinen in voller Fassungslosigkeit aufgeschrien hat, der sich aber jetzt mit aller Gewalt zusammennimmt und sein Entsetzen hinter erzwungenem Lachen und kläglichem Gestotter zu verbergen sucht.

Sie antwortete ihm nicht; sie fuhr fort, ihn mit diesem grauenhaften Blick anzusehen, und schritt aufrecht und stolz an mir vorüber aus der Hütte. Stephan faltete mit stummer Beschwörung die Hände gegen mich und folgte der Gräfin gesenkten Hauptes langsam nach.

Sie waren kaum fort, als ein vortrefflich nachgeahmter Wachtelschlag sich im Gebüsch hinter den Ulmen hören ließ und Anka herbeisprang. Als ihr Onkel auf mich zugekommen war, hatte sie sich versteckt, war Zeuge von allem gewesen, was hier geschah, mußte gehört haben, was gesprochen wurde, und – verlor auch nicht ein Wort darüber. Machte sie sich keine Gedanken oder mehr, als sie gestehen wollte? Ich wußte es nicht und erfuhr es damals auch nicht. So verschlossen war mir der Einblick in dieses Kindergemüt, daß ich von allem, was darin vorging, nur das kannte – und das ist ja bei einem Kinde das wenigste –, wonach sich fragen läßt. Es war so gar kein Verständnis zwischen uns, so gar keine Spur davon! Und wenn es aufs Erraten ankam, da erriet Anka viel eher mich als ich sie.

Am Abend desselben Tages war Ball im Schlosse, und Anka hatte die Erlaubnis, dem Tanze zuzusehen. Wir erhielten unsern Platz auf der Galerie des Saales; der Doktor geleitete uns hinauf und leistete uns Gesellschaft. Die Gräfin und ihr Vetter eröffneten das Fest. Ich bemerkte, wie die besorgten Blicke des Grafen seiner Frau folgten. Sie war kaum imstande, sich[28] zu schleppen, aber sie tanzte leidenschaftlich, mit Raserei. Es war ein unbeschreiblich qualvoller Anblick, der auch das Kind mit Schrecken erfüllte. Es preßte sich an mich und flüsterte: ›Sehen Sie doch Mama ... Ich werde gewiß von ihr träumen!‹

Der Graf suchte uns auf unter dem Vorwand, seiner Tochter gute Nacht zu sagen; den wahren Grund seines Kommens aber verriet bald die Bitte, die er an den Arzt stellte. ›Lieber Doktor, meine Frau scheint leidend, Sie sollten ihr heute das Tanzen verbieten.‹

›Das Tanzen ist Ihrer Erlaucht schon vor zwei Jahren, seitdem öfters und niemals nachdrücklicher als am heutigen Morgen verboten worden‹, erwiderte der Doktor in trockenem Ton, und der Graf schwieg. Er mochte wissen, wie lange, wie hartnäckig die Warnungen des Alten mißachtet und als Schwarzseherei verspottet worden waren.

Sobald der Graf uns verlassen hatte, verlangte Anka hinweg. Sie hielt meine Hand fest, während wir durch die hell erleuchteten Gänge nach unsern Zimmern zurückkehrten. ›Bleiben Sie da, bleiben Sie neben mir‹, wiederholte sie beständig, als sie schon im Bett lag. ›Sie müssen die ganze Nacht neben mir sitzenbleiben.‹ Sie zitterte, ihre Zähne schlugen aneinander, ihre Stirn und ihre Lippen glühten. Sie schien von einem plötzlichen Fieberanfall ergriffen. Mir war bang, ich läutete, ich wollte um den Arzt schicken, aber niemand kam, keiner war da von der ganzen zahlreichen Dienerschaft. Die einen hielt ihr Dienst, die andern ihre Neugier und Schaulust in der Nähe des Festes.

›Fehlt Ihnen etwas, haben Sie Schmerzen, Anka?‹ fragte ich.

Nein, ihr fehlte nichts, und es tat ihr nichts weh als nur das Gellen der Geigen, der Lärm der Musik. Nun herrschte aber tiefste Stille um uns, auch nicht ein Laut drang von dem entfernten Teile des Schlosses herüber, in dem getanzt wurde, und ich sagte zu der Kleinen, sie träume schon. Da begann sie zu klagen und zu wimmern, sie träume nicht und wolle nicht träumen, wolle lieber nie mehr schlafen. Auf jede meiner Einwendungen hatte sie ein Dutzend Antworten. Endlich wurde sie ruhiger und schloß sogar die Augen. Doch schreckte sie bei meiner geringsten Bewegung auf und rief: ›Bleiben Sie bei mir!‹

Mitternacht war längst vorüber, da traten unsre Frauen alle zugleich in das Nebenzimmer. Durch die nur angelehnte Tür drang das Geflüster ihrer Stimmen, ein hastiges, verworrenes Durcheinander, aus dem kein deutliches Wort zu entnehmen[29] war. Anka legte den Finger an den Mund und lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit; als jedoch der Kopf Francines an der Tür erschien, stellte das Kind sich sogleich schlafend und erreichte auch seinen Zweck. Trotz meiner abwinkenden Zeichen, die sie nur der Sorge zuschrieb, Anka könne geweckt werden, raunte die Bonne mir zu: ›Der Ball ist aus. Die Gräfin stirbt.‹

Anka stieß einen fürchterlichen Schrei aus und warf sich mir um den Hals. Ihr kleiner Körper zuckte und wand sich in einem Ausbruch wahnsinniger Angst. ›Sie war schon tot, sie war schon den ganzen Abend tot und hat noch getanzt und wird jetzt gleich hereintanzen!‹ rief sie und drückte sich zitternd und bebend an mich.

Francines alberne Versuche, sie zu beruhigen, regten sie nur noch mehr auf. ›Du lügst!‹ schrie sie und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, als die Bonne nun plötzlich zu behaupten begann, Mama habe nur eine kleine Ohnmacht gehabt, eine unbedeutende kleine Ohnmacht, und werde morgen gesund sein.

Wir wachten die ganze Nacht hindurch.

Jetzt ging es wirklich sehr lärmend um uns zu. Die Wagen der abfahrenden Gäste rollten unter unsern Fenstern vorüber, auf den Treppen, den Gängen war es laut von auf und ab eilenden Schritten, im Hofe wieherten die Pferde der Estafetten und Kuriere, die nach dem nächsten Städtchen und von dort aus auf Postpferden weiterreiten sollten, um Ärzte aus der Residenz herbeizuholen.

Am Morgen kam der Doktor und brachte Nachricht von der Gräfin. Sie war auf dem Balle plötzlich umgesunken, konnte lange nicht zu sich gebracht werden. Eine Lungenentzündung stand zu befürchten. Anka hörte ihm halb ungläubig, halb befriedigt zu und wiederholte mehrmals leise, als ob sie sich selbst Trost zusprechen wollte: ›Meine Mutter ist nur krank, nur krank ...‹ Dann schlief sie ein und schlief bis zum Abend. Mit der Dunkelheit kehrten all ihre Schrecken und Bangigkeiten wieder; wir durchwachten diese wie die vorige Nacht, und bei Tag wurde wieder geschlafen. So ging es fort, eine Woche lang, am Morgen des achten Tages verschied die Gräfin.

Der Graf hatte während ihrer Krankheit nicht von ihrer Seite weichen dürfen. ›Sie klammert sich an ihn wie die Reue an die Barmherzigkeit‹, sagte Francine, die sich mit ihrer zudringlichen Dienstfertigkeit den Eintritt ins Krankenzimmer erzwang. Anka zu sehen hatte die Gräfin nur einmal verlangt,[30] und als man ihr sagte, sie schliefe, sich damit zufrieden gegeben und nicht wieder nach ihr gefragt. Graf Stephan irrte im Schlosse umher wie ein Verzweifelter. Er wußte nicht, wohin sich flüchten. Wenn er schwer gesündigt hatte, in diesen Tagen hat er schwer gebüßt. Auf Wunsch des Grafen mußte er alle Berichte über das Befinden der Kranken an die Verwandten, namentlich an die Mutter der Gräfin, schreiben. Ratlos kam er, um meinen Beistand zu erbitten. Die Feder führen war nicht seine Sache, und er gestand es ohne Beschämung ein. Es versteht sich von selbst, daß ich ihm hilfreiche Hand bot, und er war so gequält, so zerknirscht und so dankbar, daß ich beinah Mitleid mit ihm hätte haben können. Damals begegnete ihm, was ihm wohl nie vorher begegnet war, er vergaß, an sich und an den Eindruck zu denken, den er hervorbrachte, er wußte nichts, als daß er ein geschlagener Mensch war. Das Leben, das er gedankenlos und leichtfertig als Freudenjagd behandelt, hatte plötzlich mit stummer und gewaltiger Beredsamkeit zu ihm gesprochen und sein Gewissen geweckt. Er sah um zehn Jahre gealtert aus, als er am Todestage der Gräfin Anka holte, um sie zu ihrem Vater zu führen. Sie sträubte sich, man mußte ihr beteuern, um sie fortzubringen, daß sie gewiß nicht in die Nähe der Verstorbenen kommen würde. Als sie eine halbe Stunde später zurückkehrte, sprach sie nicht ein Wort von ihrem Vater; sie fing gleich an, mit ihren Puppen zu spielen, führte eine ganze Komödie auf und unterbrach sich auf einmal, um zu sagen: ›Ich habe immer gehört, daß ein Kind traurig ist, wenn seine Mutter stirbt. Warum bin denn ich nicht traurig, Fräulein?...‹ Ja, die war merkwürdig, diese Kleine! Ich kam mir bei ihren Fragen, auf die ich gar oft keine Antwort wußte, ganz kläglich vor.

Den Herrn Grafen sah ich erst am dritten Tage nach dem Tode der Gräfin bei den Trauerfeierlichkeiten wieder. Er erschien ehrfurchtgebietend in seinem großen, stolz getragenen Schmerz. Ich wagte kaum ihn anzusehen, und als er zu mir trat und sagte: ›Ich empfehle Ihnen Anka‹, hätte ich die Hand, die er mir reichte, küssen mögen.

Nach der Einsegnung, die am frühen Morgen stattgefunden hatte, wurde die Leiche der Gräfin zur Beisetzung in die Familiengruft nach dem Stammsitze des Hauses gebracht. Einige Stunden später begaben wir uns dahin. Den Grafen begleiteten Graf Stephan und die beiden Brüder der Gräfin, die sich eingefunden hatten, um ihrer Schwester die letzte Ehre zu erweisen.[31] Anka und ich folgten. Ein Teil der Dienerschaft war vorausgeschickt worden, um alle Vorbereitungen zum Empfang der toten Herrin und ihres Geleites zu treffen.

Das war eine andere als die erste Reise!

Unser Zug richtete sich durch eine rauhe, unwirtliche Gegend nach dem Norden des Landes. Langsam, trotz der häufig gewechselten Pferde, fuhren wir über schlechte Wald- und Gebirgswege in den trüben Herbsttag hinein, im Gefolge einer Leiche.

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 2:] Kleine Romane, München 1956–1958, S. 22-32.
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