II. Brief

Amalie an Fanny

[11] Meine Beßte, Liebste!


Weist Du es wohl, daß der denkende Mensch weit mehr leidet, als der nichtdenkende? Der lezte fühlt weiter nichts als den ersten Streich des Unglüks, aber der erstre den ganzen Wiederhall. Die Grade unsres Gefühls mißt unsre Einbildungskraft ab, und wo der Tiefsinn mehr oder minder wirkt, da drükt er mehr oder weniger. – Enge Köpfe und steife Herzen sind arme, aber ruhige Geschenke. Das ist nun richtig, daß auch mit meiner Einbildung mein Kummer wächst. Jener unersättliche Oheim reißt unser Vermögen mit Riesenmacht ins Verderben. Vater, dacht ich lezthin, deine Güte ist Verschwendung, aber keine lasterhafte Verschwendung, möchte Dich der Himmel entschuldigen! – Weiter würd' ich noch gedacht haben, aber mein Herz war Wachs, Thränen rollten gewaltig auf meinen Busen. – Nun Mädchen! jezt wirst Du ausrufen, zu was all dein Jammern? Hast schon Recht, Fanny! Wenn nur die lokkende Hofnung kein so elender Trost wäre, so möcht ich mich an diesen Pfad allein halten; aber sich von dieser Heuchlerin[11] täuschen, und so oft täuschen lassen, das ist hart! Nicht wahr, Liebe! Glük und Unglük hat einen gewissen Lauf, und wen das leztre schlägt, der hat Stärke nöthig, seine Streiche auszuhalten? Denn es ist eine so hartnäkkige Schlange, die sich von einem Gliede zum andern windet, überall den Elenden verwundet und doch nicht tödtet. Wenn für mich eine so lange Reihe von Martern bestimmt wäre! – – Wie ich mich doch so eigensinnig in die Zukunft drängen möchte! Das Hineingukken ist eine Plage, die der melancholische Mensch überall mit sich schleppt; klein und rasch sind seine Erholungen, aber anhaltend und schwarz seine darauffolgende Leiden. O Fanny! mein Vater scheint gebeugt, und ich bin zu blöde, um ihm seinen Kummer abzuzärteln. Ich möchte ihm kein Geständnis ablokken, das ihm hart ankäme. Ach Mutter! – Warum bist Du hin, für uns alle hin? Mädchen! mir ahndet, und meine Ahndung ist gewis nicht ohne Grund. Mein Vater stekt in Schulden, und die rohen Menschen gaben ihm nur wenige Wochen Termin. Kein Ausweg ist vorhanden, keine nahe Rettung läßt sich blikken. Gott! wir sind im Elend!


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 11-12.
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