III. Brief

Fanny an Amalie

[12] Liebe unglükliche Freundin!


Wenn es Mittel gäbe, einen so tiefen Gram, wie der deinige ist, zu lindern, dann hätt ich Dich gewis nicht so lange warten lassen, was hätt ich Dir wohl mitten in deinem[12] Jammer sagen sollen? Es gehört eine gewisse Kunst dazu, Unglükliche zu trösten, und Du sagtest mir schon selbst, daß ich hiezu sehr ungeschikt wäre. Ich habe Dich also im Innern bedauert und viele stille Thränen für Dich verweint. Wenn ich schon nicht, wie Du, alles exzeßmäßig fühle, so fühle ich doch gewis tief, sehr tief. Tröste Dich, beßte Amalie, tröste Dich über den Verlust deiner Mutter, überdenke das menschliche Schiksal, und sieh zu, ob dieses Opfer nicht eine Folge der Menschlichkeit sey? Wahr ist es, die Natur empört sich, wenn ein so theurer Theil sich in Nichts verwandelt, wenn es aber so seyn will, so seyn muß, warum soll denn ein Mensch gegen eine unabänderliche Bestimmung rasen? Ja, Freundin! Enthusiasmus macht glüklich, wenn er nicht überstimmt wird, und Du besonders, liebes Kind! Du räumst ihm nur im Tragischen einen Plaz ein; deine Einbildung wird mehr dein Tirann als dein Wohlthäter. Beßtes Mädchen, suche Dich gelassener zu stimmen; vielleicht ist es noch Zeit, wenn Du anders deine Heftigkeit nicht schon zu stark gezögelt hast. Und dann, meine Liebe, wo ist dein Zutrauen auf die Vorsicht? Willst Du nicht lernen groß denken und im Elend sich fest an Den halten, der die Thränen der Unglüklichen zu belohnen weis; an Den, der uns retten kann, wenn wir es verdienen gerettet zu seyn? Dein Vater, Du und deine Schwester sind bedaurungswürdig. Es ist eine grausame Gabe um ein gutes Herz; es läßt sich so leicht bis zum Leichtsinn heruntertäuschen. Doch, liebes Mädchen, es ist einmal dein Vater; ehre seine Würde und beweine seine Handlungen. Ich kenne dein Herz, beßte Amalie, es ist so edel gestimmt, es schlägt so rein, glaube deiner Freundin, es kann nicht unbelohnt bleiben. – Nein es kann nicht! Gutes Mädchen! Wie edel ist nicht dein Kummer über einen innerlichen Vorwurf deines Vaters! Du duldest so viel, und bist doch noch[13] so sanft, so äußerst gutherzig. Amalie! Dein Gefühl hat einen Werth, der sich nicht bestimmen läßt, weil es so selten unter Kindern zu finden ist. All dein Unglük muß Dich doch weniger drükken, wenn Du denkst, mein Herz verehrt ihn dennoch, Den – der mir das Leben gab. Fahre fort, Freundin, so zu handeln, ich will Dich ewig verehren und nie aufhören zu seyn, deine theuerste


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 12-14.
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