XVI. Brief

An Fanny

[32] Liebe Fanny! Siehe doch, wie geschwind das Menschenschiksal sich ändert! Du weißt, wie sehr ich mich hinwegsehnte, und schon heute erhältst Du diesen Brief aus meiner Vaterstadt. Geschäfte, die Niemand anders besorgen konnte, bestimmen mich hieher. Meinen Vater verlies ich unter tausend Thränen, und ohne seinen Willen wäre ich gewis nicht fort. Er selbst fand es nöthig, ich sah es auch ein, und so reiste ich in Gesellschaft seines Bruders und eines seiner Söhnen ab. Müde bin ich noch ziemlich, denn wir mußten die Reise aus Geldmangel zu Fuße machen. Es war ein kleiner Spaziergang von dreißig Meilen, schlechter Weg und eine hartherzige Gesellschaft dazu. Das Leztere besonders fiel mir schwer, sehr schwer; auch mein Herz empfand eine solche Demüthigung; aber dennoch überhüpfte meine Jugend diese Epoche mit einer Art von Leichtigkeit. Meine Begleiter waren,[32] wie gesagt, hartherzig und unartig; oft verdoppelten sie ihre Schritte, ließen mich stundenlang in den fürchterlichen Gegenden zurük, und dann mußte ich sie athemlos einholen. Ja, Freundin, so muß ich mein Schiksal nachschleppen. Ich gewöhne mich nach und nach an verschiedene Arten von Unbequemlichkeiten, und lerne recht fleißig Sachen ertragen, die nur für Unglükliche bestimmt sind; zum Glükke, daß mein Körper dauerhaft ist, sonst müßte ein Mädchen von meinem Alter gewis unterliegen. Tausend Dank meiner Mutter, daß sie mich ohne Weibersucht erzog. Wenn mich auf dieser Reise meine Einbildung gemartert hätte, wenn ich über ein rohes Lüftchen, über eine Erhizzung, einen Jammer, aus Gewohnheit, andern Leuten zur Last angestimmt hätte, da Fanny, wäre es mir gewis übel ergangen! aber geduldig, wie ein Schulfrazze, mußten mich meine Beine fortschleppen; fort hieß es, und so kamen wir hier an. Ein Vetter und eine Base nahmen mich in ihr Haus auf. Mit Nächstem etwas weitläufiger von dieser Base. Für jezt schlaf wohl, recht wohl! Ich bin


Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 32-33.
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