XIX. Brief

An Fanny

[36] O, meine Beßte! – Ich bin ganz außer mir! Mein hirnloser nervenstumpfer Vormund jagt mir täglich mehr Galle ins Blut. – Unter seiner schwarzen, zerzaußten Perrükke stekt eine große Portion Spizbüberei verborgen. – Du kannst Dir leicht vorstellen, daß dieser Mann uns arme Kinder gewißenlos einem schändlichen Eigennuz aufopfert. Er entwandte uns einige Kleinodien von großem Werthe, und ich armes Mädchen konnte ihm diese Dieberei nicht beweisen, ob ich sie gleichwohl sichtbarlich entdekte. Aber, so wahr Gott lebt! – Er soll es mir gewis unter vier Augen zu verstehen bekommen, wie klar ich seine betrügerische Larve durchsah! – Und nun, meine Theuerste, zu etwas anderm: Du erinnerst Dich doch noch jener eifersüchtigen Base, wovon ich Dir schon einmal schrieb? – Das Weib wird immer wütender, und bald macht sie mir es zu bunt! – Du lieber, gütiger Himmel! – Was diese Kreatur für Bosheiten in sich trägt. – Sie macht selbst Seitensprünge und sucht sorgfältig die Laster in ihrem Manne auf, um die ihrigen damit zu vermänteln. – Jeder Bissen Brod, den[36] ich in diesem Hause genieße, wird mir von ihr verbittert; sie ist ein gallsüchtiges Unthier, nährt sich vom Mistrauen, und lauert dabei auf jeden meiner Schritte. Meine selige Mutter hat viele Wohlthaten an sie verschwendet, und mich lohnt sie dafür mit Undank. Freundin! – Wenn es nicht mehrere gute Menschen in der Welt giebt, als ich bis jezt kennen lernte, so ist ja die Welt ein Sammelplaz von Misgeburten, die sich an der sanften Mutter Natur, versündigen. Möchte sich doch das eifersüchtige Fieber meiner Base von selbst heilen; durch mich soll es wenigstens nicht tödtlich werden; eher brech ich auf, und ziehe weiter. – Zu dem wird ihr Mann gegen mich immer dringender. Seine Sinnen scheinen ganz betäubt, aber die meinigen um desto wachender, und so hat es noch keine nahe Gefahr. Freilich ist das Gewinsel eines solchen Weichlings für mich ekkelhaft, wenn ich so einen Sklaven der Wollust um mich herum muß kriechen sehen. – Doch, Freundin, wundere Dich ja nicht über meine Kälte gegen so viele Versuche auf mein siedheißes Blut; halte sie nicht für Romanenstärke; sie ist die natürlichste Folge meiner noch unentwikkelten Empfindung. – Ich bin zu wenig noch mit dem Gebrauch der Sinnen bekannt, um nach dem lüstern zu seyn, was mein sauberer Vetter mir wider meinen Willen abdringen will. – Mein Herz ist frei von Leidenschaft und Interesse; das sind zwo gefährliche Klippen, woran so viele Mädchen scheitern. – Nicht, daß ich etwa ein Triumphlied über meine Enthaltsamkeit anstimmen will; mich deucht, ich würde dadurch die Menschheit lästern, wenn ich ihre Triebe für unbezwinglich hielte. – Ich glaube zwar gerne, daß einige Mädchen von gelindem Temperamente, gewisse Jugendjahre rein platonisch durchwandern; nur ahndet mir, (ob mich meine Ahndung betrügt, weis ich nicht) daß der dümmere Theil strauchelt, noch eh er Hymens Brautbett besteigt. Ein Mädchen, das[37] nicht denkt, kann ihren Sinnen ja keine Ueberlegung entgegensezzen. – Der Vernunft einiger Romandichter muß es also sehr sauer ankommen, wenn sie durchaus alle Mädchen blos schimärisch engelrein in Romanen handeln lassen. – Mir scheint, dergleichen Bücher bilden aus jungen Leuten Fantasten, und dienen dem Menschenkenner zum Gespötte. – Du wirst mir sagen, ob mein Schluß richtig ist. – Wäre es denn nicht besser, die jungen Mädchen durch eine wahre Schilderung der Welt von Irrwegen abzuhalten, als durch eine erdichtete Romanenmoral ihre Einbildung bis zur Engelssphäre zu spannen, damit sie noch tiefer fallen, wenn ein empfindsamer Schurke an ihrer Seite seine Rolle gut zu spielen weis? – Ich meines Theils würde nicht halb so neugierig seyn; wenn ich ganz wüßte, wie es in der Welt zugeht, und was allenfalls das Verhältnis der menschlichen Kräfte nicht überstiege. – Nicht wahr, Freundin, eine allerliebste Anmerkung, für so ein junges Ding von meiner Art? – Je nun! Bin ich denn nicht alt genug, um über eine Sache zu plaudern, die alle, durchaus alle Mädchen von Fleisch und Blut angeht. – Also nichts für ungut! Und nun gute Nacht von


Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 36-38.
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