XL. Brief

An Amalie

[87] Liebe, theure, unglükliche Freundin! – Wenn mich in meinem Leben jemals, mit all meiner Religion, ein Schiksal gebeugt hat, so ist es das deinige! – So anhaltend –[87] so unaussprechlich, wie es Dich verfolgt, – so Kummer auf Kummer – ist meinem Gefühle unbegreiflich. – Die feurigste Einbildungskraft des geschiktesten Dichters wäre zu schwach, um das hartnäkkige Unglük so hinlänglich zu ersinnen, wie die Wahrheit deines bittern Schiksals es mit sich führt. – – So bist Du denn zum Leiden geboren? – Bist Du denn geboren, um Alles neben Dir unglüklich zu machen, was mit Dir harmonirt? – Die gütige, sonst so mitleidige Natur rächt sich wahrlich an Dir, denn sie gab Dir ein schmelzendes Herz, einen unglüklichen Schwung der Einbildungskraft, Weiberschwäche und ein unendliches, ineinander gewebtes, unerbittliches Schiksal! – Aber sie gab Dir auch Vernunft, eine Vernunft deren Stärke über die leidenden Theile des Körpers mächtig zu herrschen im Stande ist. – Laß sie immer auf den gekränkten Busen rinnen, die Thränen des schwächlichen Körpers, laß es ausklopfen das bange, vom Schiksal geängstigte Herz, es ist das Loos der unvollkommnen Menschheit, es ist die Versicherung künftiger Belohnungen, wenn wir mit Christenstandhaftigkeit die Hand küßen, die uns dazu bestimmte. Wenn der Tod einen Vater oder eine Mutter vom Kinde reißt, so läßt dieser traurige Verlust einen Wiederhall zurük, der die ganze Natur im Kinde erschüttert! – Trift es nun ein fühlendes, bebendes, schwaches Mädchen, dann schleppt er sie hin, der zehrende Gram zum Altar der Thränen und der Wehmuth! – Ich begreife deinen Jammer, fühle ihn mit, und wenn warme Thränen der innigsten Theilnahme Linderung schaffen können, nun so drükke ich Dich an mein Herz, Amalie, und diese Thränen seyen Dir so lange geweint, bis es Dir leichter wird ums kranke Gemüth. – Du mildes, gutes Geschöpf! – Mit welcher Engelsgüte sprichst Du von dem Wohl deiner Schwester! Er wird deine Seufzer hören, der mächtige Vater der Waisen, er wird sie aufzeichnen[88] ins Buch der Ewigkeit, die Güte deines unverbesserlichen Herzens! Wenn deine Schwester das Ebenbild deiner Güte wird, so seyd ihr zwei Mädchen, die der Schöpfung zur Ehre ihr Daseyn erhielten. Ich will Dir nicht schmeicheln, aber innigst gerührt über den großmüthigen Zug deiner Sorgfalt wegen der Erziehung deiner noch unmündigen Schwester, möchte ich es die ganze Welt wissen lassen, was Du für ein Mädchen bist! – Vortrefliche Freundin! – Die schönste Gabe Gottes ist dein Herz, ein Geschenk, worinnen für Dich und Andere tausendfaches Wohl liegt! – Wohl für Andere, weil es sich so gränzenlos mittheilt, aber auch Weh für Dich, weil es zu unaussprechlich tief fühlt! – Bei dem festen Band unserer Freundschaft beschwöre ich Dich, verkürze die Tage deines Lebens nicht durch übermäßigen Gram! Lerne Dich selbst schonen um deines beßten Oheims, um meinetwillen! – Die Stunden unsers Traums sind so kurz, und warum willst Du in der Blüte deiner Jahre mit gewaltsamer Hand ihren Lauf hemmen? – Deine Schwermuth ist Dir zur Wollust geworden, ich gönne sie Dir gerne, diese Schmeichlerin des leidenschaftlichen Tiefsinns, ich selbst opfere dieser Göttin der denkenden Leiden oft genug mit blutendem Herzen, aber nur überlasse Du Dich nicht zu viel dem schmeichelnden Gifte, das deine Gesundheit untergräbt. – Ich kann zwar die allzu lustigen Mädchen auch nicht leiden, denn ihr Leichtsinn macht ihre Seele stumpf und verjagt jedes Gefühl, was zum ernsthaftern Glükke der Menschheit beiträgt. – Eine zum stillen Leiden gewöhnte Seele ist allen Eindrükken der Tugend offen, nur muß Wiz und Laune bei einem ganz liebenswürdigen Mädchen durch eigne Ueberlegung die Wunde der Schwermuth zuweilen ausheilen, die durch die Kenntniß des menschlichen Elends in ihr ist aufgerissen worden. Dein Oheim in S... G..... ist das, wozu ihn der Eigennuz umschuf; das abscheulichste aller Laster! –[89] Ein Laster, das alle andere überwägt und den Menschen zur gräßlichsten Hartherzigkeit verleitet. Siehst Du nun, meine Liebe, die gute Mutter Natur hat Schatten ins Licht geworfen, da sie ihn und seinen herrlichen Bruder schuf, damit der Leztere das in der Religion verherrliche, was der Andere, der gleichfalls ihr Beschüzzer seyn sollte, an ihr versäumte. Die Priester sind Menschen wie wir, und hangen, was ihren moralischen Karakter betrift, von der Erziehung, vom Beispiel und von ihren Leidenschaften ab, die nur darum auf Unkosten ihrer Nebenmenschen gehen, weil man so wenig Priester in ihrer Jugend fühlen und unterscheiden lehrt. Deinem Herzen muß freilich ein solcher grausamer Mann Zentnerschwer auffallen! – Aber, glaube mir, ein einziger guter Geistlicher, der sein Herz vor Religionshaß, vor Dummheit und Vorurtheil verwahrt, hält uns für alle übrigen schadlos. In jedem Stande findet man eine größere Anzahl Sünder als Tugendhafte, nur ist dieser geheiligte Stand mehr den Vorwürfen ausgesezt, weil er von der Religion zum guten Beispiel bestimmt ist. – Die Beschreibung deines edeldenkenden Oheims in K*** versüßte mir den Aerger wieder, den mir dein anderer Oheim verursachte. Was für ein trefliches Herz, was für gute Grundsäzze muß dieser Menschenfreund nicht haben? – So ein glänzendes Beispiel der Menschheit sollte billig die Verehrung eines jeden gränzenlos genießen. Tausend Segen dem Wohlthätigen, und Dir tausend Küße von


Deiner Fanny.[90]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 87-91.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen