XLI. Brief

An Fanny

[91] So wie ich Dir lezthin schrieb, reißte ich von A... nach W... und diese gefühlvolle Thräne, die jezt in meinem Auge glänzt, hat sich auf dem einsamen Grabe meines Vaters darein gedrängt! – Wie war es mir möglich diesen schaudernden Anblik zu ertragen, als ich in das fürchterlich stille Zimmer trat, wo blos der Geruch des Todes und meine arme, weinende Schwester mich bewillkommten? – Das arme Kind fiel mir hastig um den Hals und stotterte etwas vom Papa und dergleichen. – Dieser Auftritt der sprechenden Natur würde jedem eine Thräne des Mitleids entlokt haben, wenn er anders zum geheiligten Tempel der Empfindung jemals Zutritt gehabt hätte. – Ein treues, gutes Dienstmädchen, die sich schon lange bei uns aufhält und meine Schwester leidenschaftlich liebt, entzükte mich bei dem Eintritt ins Haus durch den herzlichen Antheil, den sie an unserm Schiksal nahm. Gewis, Fanny! – Auch unter gemeinen Leuten giebt es Seelen von höherm Schwung der Empfindungen, und manches gute Menschengefühl geht im niedrigen Stande verloren, weil es so selten Anlaß bekömmt sich zu üben. Der junge Vetter B*** ist auch noch hier, empfieng mich aber flüchtiger, als ich vermuthet hatte. Man sagt der gute Junge hienge an dem Umgang eines Weibs, die eben nicht viel taugte, und daher mag wohl sein ehmaliges Gefühl für Freundschaft und Wohlwollen einen kleinen Stoß erlitten haben. Indessen war er doch äußerst gebeugt über den schnellen Hintritt meines Vaters und seines Wohlthäters. – Man versicherte mich, daß er beim Begräbniß desselben, in ein lautes, fürchterliches Stöhnen ausgebrochen wäre. Der Bedaurungswürdige verlor mit mir Unterstüzzung und Trost,[91] und wird eben so wohl als ich dem flüchtigen, ungewissen Schiksale Preis gegeben. Noch ist unser Aller Schiksal unentschieden. Unser Oheim in K*** befahl sein Gutdünken darüber abzuwarten. Was mich aber sehr kränkt, ist der verachtungswürdige, niederträchtige Vormund, der so bald er den Todesfall erfuhr, unverzüglich hieher reiste, vermuthlich um seine intereßirte Grausamkeit aufs Aeußerste zu treiben. Er überraschte mich mit der schröklichen Nachricht, daß er entschloßen wäre, meine Schwester mit sich zu führen und von den Interessen unsers Vermögens im Kloster erziehen zu lassen. Ich verbat mir diese Unternehmung aufs Ernsthafteste und berief mich auf die Entscheidung unsers Oheims, der jezt Vaterstelle bei uns Kindern vertretten würde. – Großer Gott! – Freundin! – Was höre ich? – Was ist das für ein Lärm, der mein Ohr erschüttert? – Ich muß nachsehen; mein Herz schlägt ängstlich! – Bald bin ich wieder bei Dir. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . O, bei dem Allmächtigen; das ist zu viel! – Zu viel in einer Christenheit, die uns Gerechtigkeit vorheuchelt und dabei Barbarei ausübt!!! – Ha! – So hat er es denn mit Gewalt weggerißen, das Opfer seines unersättlichen Geizes! – O, meine Schwester! – Meine Schwester! – Du bist auf ewig für mich verloren! – Theure, einzige! – So bist du denn wirklich in der Gewalt dieses hungrigen Satans, der zu sehr Andächtler ist, um kein Bösewicht zu seyn! Barmherziger Richter der Gekränkten! – In diesen, von den Thränen armer Waisen feuchten Händen liegt also die ewige und zeitliche Glükseligkeit meiner Schwester! – Wenn mir dieser einzige Gedanken nicht meine Seele zerreißt, o! dann hat diese Seele Heldenstärke, um mehrere Angriffe von dergleichen Scheusalen zu ertragen! Verzeihe,[92] Liebe, dem Schwindel meines Kopfs und den Bangigkeiten meines Herzens, wenn ich in Wildheit ausarte! – Wenn mir jezt die Sinnen nicht ihren Beistand versagen, so will ich Dir erzählen, was ich gesehen, was ich gehört habe: Als ich mich dem Auftritt nahte, der mich im Schreiben dieses Briefs unterbrach, fand ich wegen der Uebergab meiner Schwester den heftigsten Streit zwischen Vetter B*** und meinem vor Galle rasenden Vormund. Wir alle sträubten uns bis zum Entsezzen gegen sein Vorhaben, wir hielten das Kind fest, das er uns mit Gewalt wegreißen wollte, B*** eilte nach Hülfe, mich riß in dem entscheidenden Augenblik meine Heftigkeit zur Sinnlosigkeit hin. – Gewalt gieng während dieser Pause über Recht; er schleppte das wehrlose Kind zum Wagen, und führte sie mit sich ins Kloster. – Die Natur hatte mir während dieser Ohnmacht nicht den lezten Stoß gegeben; ich mußte noch einmal zum neuen Elend erwachen! Heulend lief ich zum Richter, foderte meine Schwester; aber seine Fühllosigkeit gieng so weit, daß er sie in den Händen dieses Mannes für besser versorgt hielt, als in den meinigen, indem er mir meine Jugend und meine wenige Erfahrung vorwarf. Gebeugt bis zum Unsinn kehrte ich jammernd in meine Wohnung zurük, und nun mag der Menschenvater aus mir machen, was er will, ich bin meiner nicht mehr Meister!!! – Deine bitterweinende


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 91-93.
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