CII. Brief

An Fanny

[76] Wort halten, ist Pflicht! – ruft uns die alte teutsche Redlichkeit zu. Also muß ich wohl heute ihrer Stimme folgen, und Dir, meine Fanny, mein Versprechen erfüllen. So eben komme ich wieder aus einer adelichen Gesellschaft zu Hause; und ich kann Dich versichern, daß die hiesigen Edelleute männlichen Geschlechts fast durchaus über eine Form gemodelt sind. – Ich fand in einem die andern alle. Ihr Wesen ist einfach, und ihre Nazional-Mundart ist dem einen wie dem andern eigen. Selbst Liebe, die doch bei der italienischen Sprache sehr gewinnt, wird durch ihre Nazionalsprache verunstaltet. – Schon einige haben es versucht, auf mein Herz Ausfälle zu wagen, aber sie prellten ab. – Das Zuhausesizzen versagt ihnen die nöthige Kultur. Sie besizzen die hochmüthige Grille, daß keiner von ihnen ohne fürstlichen Aufwand reisen dürfe; und doch haben die wenigsten davon Glüksgüter genug, um diese Grille zu befriedigen; also bleiben sie lieber an ihrem Kaminfeuer sizzen, und gewöhnen sich dabei an eine simple nazionale Lebensart, daß es dem Fremden schwer wird, den Edelmann vom Lakaien zu unterscheiden. – Sie lesen wenig, studieren (ihre Landesgesezze ausgenommen) fast gar nichts, und bleiben bis an ihr Ende gutwillige Pagoden zur Bedienung ihrer aufgeklärteren Damen. – Ihre besondere Höflichkeit, ihr[76] hübscher Körperbau und ihre feurige Liebe für unser Geschlecht, sind noch die einzigen kleinen Vorzüge, die sie erträglich machen; demungeachtet sind sie sehr zur Schwelgerei geneigt. Wenn ein junger Venezianer ohne Liebesfesseln lebt, dann lebt er gewis bis zum Ekkel ausschweifend. – Nun so ist denn doch Ausschweifung immer das gewöhnliche Extrem eines Gelehrten oder eines Dummkopfs! – (fuhr mir bei dieser Anmerkung durch den Sinn...) Doch weiter! – Wiz besizzen sie gar keinen, aber desto mehr Nazionalsprüchelchen. Vernunft findet man noch am meisten unter den Advokaten, weil sie ihnen Geld einträgt. – Gekken sind sie fast alle, denn ihr Müßiggang macht sie dazu. Stolz auf ihre Freiheiten erlauben sie sich in ihren Masken viele kindische Thorheiten. Bigottismus und Wollust schlürfen sie ohne den mindesten Vorwurf aus einem Becher, weil sie gewohnt sind, ihre Rechnung alle Monate wenigstens einmal in dem Beichtstuhl abzulegen. Der Grundzug ihres Karakters bleibt so lange gutherzig, bis er von einer Leidenschaft auf die Probe gestellt wird; alsdann erst artet er in feurige Rachsucht aus. – So bald man ihren vaterländischen Stolz nicht beleidigt, so ist gut mit ihnen auszukommen. Litteratur und schöne Wissenschaften verrosten gänzlich unter ihnen; aber desto fleißiger üben sie Rechtsgelahrtheit und Handelschaft. – Sie machen gutwillig die Küchenjungen ihrer Weiber; aber nie die Sklaven ihrer Vorgesezten. – Ein Venezianer läuft leichter mit dem Gemüskorb auf den Markt, als daß er nur um ein Haar seine Freiheit verlezzen ließe. Sie lieben auch die Fremden, aber trauen ihnen nicht gerne. – Eine große Menge Advokaten leben da auf Kosten ihrer Klienten, deren Rechtssache sie auf dem Rathhause öffentlich vertheidigen müßen. Die Landestracht wird von dem Nobili und Advokaten nur an Gerichtstägen getragen, und besteht aus einer Knotenperükke, einem langen schwarzen Rokke mit einer[77] silbernen Kette um den Leib. – Der Staat unterhält nur wenig Soldaten, aber destomehr Sbirren. Man behauptet, daß der Magistrat durch die Geschiklichkeit dieser Sbirren in kurzer Zeit den Namen und das Gewerb eines Fremden wissen kann, wenn ihm die Neugierde ankömmt. – Hm! hm! – Wie mag denn das zugehen? – (fragte ich mich selbst) da man doch hier zu Lande keinen Fremden mit dem Namenaufschreiben tirannisirt? – Aber desto aufmerksamer ist unsere Polizei, die den Unschuldigen nicht statt des Schuldigen plagt! – (flüsterte mir mein Vetter ins Ohr, der mein Selbstgespräch mußte gehört haben). Liebschaften, Mätressen, und alles, was ins Reich der Frau Venus gehört, steht nicht unter dem mindesten Zwang, – wenn nicht Mordthaten, oder Diebstähle damit verknüpft sind. – Wer sich in öffentlichen Häusern beschmuzzen will, kann es ohne Hindernis wagen. Doch laufen bei aller dieser Freiheit die hiesigen Männer weit weniger diesen Oertern zu, als bei uns, wo Vorurtheil, Fraubasen-Geklatsch, oder der bestochene Polizeirichter die Liebschaften von besserer Gattung so unbarmherzig stören. – Jeder unterhält sich hier sein eigenes Liebchen nach dem Maasstab seiner Einkünfte. Die öffentlichen Bedürfnishäuser werden meistens nur von Fremden, oder von den allerlüderlichsten Einheimischen besucht. – Ich habe diesen Saz meinem Vetter nicht glauben wollen; aber morgen, sagte er, müßen Sie Beinkleider anziehen, und ich will Sie davon überzeugen. – Lebe wohl unterdessen, meine Beßte!


Deine Amalie.[78]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 76-79.
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