X. Brief

[22] Um zehn Uhr Abends.


Schon wieder sizze ich da und schreibe an mein Liebchen! – Von was? – Von meiner heutigen Unterhaltung. – Es war wieder eine große Gesellschaft Adelicher da, die sich untereinander mit steifer Etikette marterten; Die Kavaliere begegneten mir so höflich, als sie es wagen durften, um die Eitelkeit der andern Damen nicht zu beleidigen. – Ich war wieder etwas lebhaft, und kümmerte mich um nichts. K.... saß an meiner Seite, wizzelte mit mir darauf los und machte alles aufmerksam. Als nun fast alle fort waren, so erkundigte sich die Hausfrau nach Dir; da ward ich dann wieder ganz Feuer und Leben! Ich erhöhte Deinen Werth mit wenig Worten, und bin versichert, daß man Dich izt noch mehr schäzt. Der Herr vom Hause lobte Dich ohnehin sehr, und seine Frau glaubt in Dir einen lebhaften Jungen entdekt zu haben. Ich sagte ihr, daß Deine Lebhaftigkeit von einem denkenden Kopf gemildert würde; daß Kopf, Wissenschaft, und gutes Herz Dir nicht fehlte. Siehst Du, Kind, so hatte ich heute Abend mein Vergnügen Dir Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, und meiner Liebe stolze Nahrung zu geben. Ist es nicht wahre Wollust, einen Jüngling zu lieben, der edel denkt, gutherzig handelt und einen offnen Kopf hat! – Und Du, Beßter, warst bis izt so in dem engen Kreise der Familien-Sklaverei[22] verborgen? Mit allen Deinen Talenten, mit all Deinen vortreflichen Grundsäzzen, mit all Deinem feinen Ehren-Gefühl! – Sag, war es nicht Schade? – Unter die Menschen, mit Dir wakrer Junge! Unter die Menschen! – Dort wirst Du den Unglüklichen ihre Thränen tröknen, und allen Guten Freude machen. Du mußtest gerade mich finden, um so geliebt zu werden, wie Du es verdienst; wenn ich alle Deine Handlungen untersuche, so finde ich Tugend und Rechtschaffenheit, Liebe und Güte, Wohlwollen und Mitleiden, Sanftmuth und Anstand darinnen, alles finde ich durch mein Nachdenken über Dein Betragen. So ein Geschöpf verdiente nicht eine dauerhafte Glükseligkeit? Du bist noch so jung, und doch so reif an Ueberlegung; so ganz ausgetreten aus den Schuhen der jugendlichen Thorheiten; wahrlich wenn ich auch nicht das Glück hätte von Dir geliebt zu werden, ich müßte Dich mehr, als blos schäzzen. Die welche Dich um Deines Karakters willen nicht liebte, die wäre gewiß eine Kokette, oder ein Gänschen; mache Dich kennbar, Lieber, in der Welt, man traut Deiner Jugend nicht alle die Verdienste zu, die Dir gebühren; so viel Gerechtigkeit man Dir auch immer wiederfahren läßt, so muß sie doch verdoppelt werden, so bald man Deine Verdienste ganz kennt. – O mein Friz, mein Zutrauen ist nun vom Himmel in mein Herz geschrieben. Ich weiß daß jeder Gedanke von Dir in mein Wohl, jede Sorge für meine Gesundheit, jede Bemühung für mein künftiges Schiksal Deine gränzenlose Beschäftigung ist. Du lebst durch mich in Dir selbst, Du bist redlich, weil diese Redlichkeit in Dir liegt, und die meinige sich fest an sie kettet, kämpfe tapfer, Beßter, kämpfe tapfer und sei kalt bei jedem Anlaß! Muthiger Widerstand vergrössert den Werth der Männer. So, Theurer, laß uns den Allmächtigen um seinen Beistand in unserm Schiksal bitten; bei dem heiligen Siegel dieses Kußes bitten! – Deine. Nina.[23]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 22-24.
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