Zwanzigstes Kapitel
Dorothee besucht ihren Vater

[271] »Dem unbeliebten Krämer wird auch die beste Ware nur getadelt.« Vom unbeliebten Geistlichen hat man im Bregenzerwalde keine ähnliche Redensart, obwohl man auch gegen diesen durchaus nicht gerechter ist. Schöner als unser Kaplan hat an diesem Sonntag wohl weit herum kein Geistlicher die Messe gesungen: trotzdem ließ Dorothee sich nicht aus dem Lesen bringen und hatte nur einen mitleidigen Blick für die, welche, dem geübten Sänger lauschend, zuweilen ihre Gebetbücher schlossen und es machten, wie auch sie früher es jeden Sonntag gemacht hatte. Ja, wären die gesungenen Gebete und Psalmen deutsch gewesen, so hätten sie vielleicht ihr frommes Herz über die Erlebnisse des Tages zu erheben vermocht; so aber kam es ihr beinahe widerlich vor, daß ein frommer Mann so singen mochte nach der wichtigen Unterredung, die er heute morgens mit ihr gehabt hatte. Sorgte der denn gar nicht, wie sie das alles in sich verwerchen und noch dazu das Gerede der ganzen Gemeinde ertragen werde? Nein, dazu stand er zu groß und zu prächtig droben auf den Stufen des geschmückten Altars, und das Rauchfaß schwang[271] er so zierlich, als ob's auf der Welt nichts Wichtigeres gäbe. Dorothee kam sich wie eine Ausgestoßene vor. In ihrem Stuhl wurde es ihr immer enger, und sie war herzlich froh, daß sie endlich den vielen schmerzlich treffenden Blicken, welche schon ihr Hiersein ihr zu verargen schienen, wieder entrinnen konnte.

Ja, jetzt war sie nicht mehr so fest und sicher wie noch nach der Unterredung mit dem Beichtvater. Schon der Empfang auf dem Stighof hatte ihr den Mut genommen, die Ruhe des Herzens erschüttert. Drum wollte sie über Mittag zum Vater und ihm den Rest des vor kurzem erhaltenen Jahreslohns bringen. Da war sie gewiß ein willkommener Gast. Wenn sie heimkam und Geld brachte, dann sagte ihr der Vater in einer Stunde mehr Liebes und Gutes, als sie sonst in einem ganzen Jahr hörte und auch zu hören wünschte. Dieses Schmeicheln und Loben des Vaters tat ihr so weh, daß sie, um es nicht erleben zu müssen, schon seit einigen Jahren den verdienten Lohn durch den Knecht auf dem Stighofe heimtragen ließ. Heute aber mußte sie liebe, gute Worte hören, wie selbstsüchtig sie auch immer gemeint sein mochten, mußte die Freude der Eigenen über ihr Erworbenes sehen und – vielleicht doch auch teilen, denn das blieb wohl nun alles, was sie von ihrem bisherigen Leben hatte.

Sie eilte so schnell als möglich über den Platz. Dennoch hörte sie, wie ein Freund des Jos mehreren Bauern sagte, daß es dem Schneider ganz unmöglich sei, die bestellten Sachen alle zur bestimmten Zeit zu liefern, wenn er nicht einen Gesellen auftreiben könne.

Das gab Dorotheen wieder Mut. »Wenn auch ein Ast unter den Füßen bricht«, dachte sie, »so fällt man drum noch nicht aus der Welt, sondern bloß vom Kirschbaum zurück auf den festen, sicheren Boden, der überall fruchtbar ist und den Fleißigen nährt. Das Glück und seine Kinder sind launisch! Aber ich will stark sein und trotzig werden wie Jos. Oh, jetzt erst jetzt versteh' ich ihn ganz.«[272]

Das Mädchen lief noch rascher und richtete das Köpflein immer höher auf. Alles war vergessen, seit sie sich in das kleine Stübchen dachte, wo jetzt der noch etwas blasse Schneider und Gemeindeschreiber saß. Was war die ganze Herrlichkeit des Stighofes gegen ein Leben, welches nicht hauptsächlich dem lieben Vieh, sondern den Menschen diente. Wenn auf dem Stighof ein dreitägiges Kälblein kurz vor Mitternacht recht erbärmlich schrie, so mußte alles aus dem ersten Schlafe heraus, und kein Mensch fand mehr Ruhe, bis der Tierarzt auf die eine oder die andere Art geholfen hatte; wenn aber Jos um Hilfe rief, dann war's umsonst. Hansjörg hatte nicht so unrecht, daß er lieber etwas anderes tun wollte als da Knecht sein, wenn es nur nicht etwas gar zu Gefährliches gewesen wäre. Warum sollte er nicht lieber dem Jos bei seiner Arbeit helfen? Sie hätte sich doch nichts Angenehmeres denken können und glaubte daher, daß es ihr noch gelingen müsse, ihn zu bereden.

Mit solchen Gedanken langte sie vor dem kleinen Häuschen an, welches ihr Vater seit seiner Verehelichung bewohnte. Die schwere, niedrige Haustür war noch geschlossen, und nichts regte sich, bis des Vaters kleiner Pudel das Mädchen wie eine Landsfremde wild anbellte. Ach, so fremd war sie hier, daß nicht einmal der Wächter des Hauses sie kannte! Das wär' wohl anders gewesen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Machte sie die Not auch hart, so hatte sie doch ein Herz für ihre Kinder und wäre gewiß nicht dahin zu bringen gewesen, daß sie den Hansjörg verkauft hätte. Aber die Lebenden müssen sich selber helfen. Die Mutter war vielem Bösen durch den Tod entronnen. Da, neben dem früh gealterten, durch bittere Erfahrungen lieblos, hart, selbstsüchtig gewordenen Vater, dem wilden Bruder und der kränkelnden Schwester, hätte sie ein Leben gehabt, wie man es ihr nicht wünschen konnte. Man mußte Gott danken, daß die so Empfindliche von dem erlöst wurde, was sie doch nicht anders zu gestalten vermocht hätte.[273]

Dorothee saß auf der Bank neben der Haustür, erwartete die Heimkehr des Vaters und sann und betete, bis sie in der Stube einige Tritte zu hören meinte. Die kleinen Fensterchen waren zwar niedrig genug, aber zu trüb und verklebt, als daß man hätte sehen können, wer sich drinnen geregt. Eins der Ihrigen aber mußte es sein, da der Pudel sofort zu bellen aufhörte und sich neben die Türschwelle legte.

»Ja so, du kommst endlich wieder einmal«, rief eine schwache, heisere Mädchenstimme. Die unvermutet Angeredete fuhr erschrocken auf und erblickte hinter einer in die Verklebung des Fensters gerissenen Öffnung das bleiche Gesicht ihrer Schwester.

»Bist du denn nicht in der Kirche gewesen?« fragte sie Marien, als diese gleich darauf die Haustür aufschloß.

»In der Frühmesse wohl, soweit ich sie nicht verschlief, wie das leicht geht, wenn man mehr als die halbe Nacht arbeitet. Vormittag hab' ich eine Stickerei fertigmachen müssen, die gleich nach dem Essen abzugeben ist.«

»So, so«, sagte Dorothee, der es nicht recht war, daß also auch die Schwester sie in der Frühmesse gesehen und vermutlich schon da von ihrer ungültigen Beichte gehört hatte.

»Du mußt mir nicht verargen, was mir sogar der Pfarrer erlaubt hat«, sagte Marie, die sich Dorotheens trüben Blick ganz anders erklären zu müssen meinte. »In den letzten Nächten hab' ich mich fast blind gearbeitet, um doch den Sonntag feiern zu können, aber es war alles umsonst. Wenn ich dich erwartet hätte – mit deinem Lohn –, hätt' ich mir freilich etwas mehr Zeit gelassen.«

»Du solltest wirklich nicht so streng, ja du solltest gar nicht sticken. Der Doktor hat es dir doch schon vor Jahren verboten.«

»Er sollte kommen, der Doktor, sollte neben dem Vater leben und für ihn den Tisch decken müssen! Die Herren haben gut reden.«

Dorothee schaute die Schwester traurig an. Das war einst in der Schule weitaus das schönste Mädchen, wenigstens in den[274] ersten Schuljahren. Dann aber wurde sie zum Sticken gehalten, daß sie nie mehr eine freie Stunde hatte. Die Lieferanten von Stickereien streckten dem Vater von Herzen gerne ziemlich bedeutende Summen vor, um die beste Stickerin der Gegend recht lange an sich zu binden. So mußte sie denn arbeiten, bis sie so bleich wurde, wie sie jetzt, etwas nach vorn gebeugt, vor Dorotheen stand. »Aber am Sonntag solltest du dir doch Ruhe gönnen!« sagte sie mitleidig.

»Auf das hin«, antwortete Marie hüstelnd, »muß ich dir sagen, was ich schon dem Doktor gerne gesagt hätte. Man darf nicht glauben, ich sei gern bei der Stickerei gesessen, wenn meine Schulfreundinnen früher vor dem Hause sangen und spielten, oder abends, wo es oft so lang währte, daß der Vater mich wach machen mußte mit einem greulichen Fluch.«

»Hat der denn gar nie genug?« fragte Dorothee mit schlecht verhaltenem Unmut.

»Sei doch nicht bös über ihn, ich verdiene mir mit allem Fleiß nicht einmal das tägliche Brot. Die meisten Stickerinnen sind hier nur so nebenbei, mehr zum Zeitvertreibe, bei der Nadel. Sie kümmern sich daher auch nicht viel um den Lohn. So behält der Lieferant den Wurf in der Hand, und unsereins kann nichts Besonderes anfangen, wenn seine Arbeit auch mehr wert wäre als die von Stickerinnen, deren Hände an viel rauhere Arbeiten gewöhnt sind. Kaum einmal bekomme ich so feine Arbeit, als ich mir wünschte. Nur in der letzten Zeit hab' ich etwas für eine Ausstellung machen müssen. Ich bin dem Herrn in der Schweiz drüben dankbar, daß er mir so schöne Arbeit überließ, wenn ich auch täglich nur zehn Kreuzer verdiente. Ich hab' einen großen Fleiß gehabt und glaube, daß die Arbeit ihm Ehre machen werde.«

»Und hast du nichts als täglich zehn Kreuzer?«

»Und in der Nacht noch zehn, wenn ich arbeite, bis mir alles vor den Augen herumtanzt.«

»Es ist ein Elend!«

»Heut unter dem Gottesdienst ist es mir gewesen wie damals, als die Kinder vor dem Hause spielten. Ich bin mir vorgekommen[275] als eine, die an nichts auf der Welt ein Recht hat.«

»Leidet ihr denn wirklich Not?«

»Ja, Hunger!«

»Hunger?« fragte Dorothee erschrocken. Was waren dagegen ihre kleinen, meistens nur eingebildeten Leiden und Sorgen! »Großer Gott!« rief sie aus, »ich helfe doch, soviel ich kann!«

»Davon sagt auch niemand; aber wir beide verdienen nicht viel, und Hansjörg steckt alles nur in seinen Handel und sagt, daß er sich schon einmal für uns habe verkaufen lassen. Ja, Schwester, der Friede fehlt – und damit der Segen Gottes und alles. Die beiden reden vielmal gegeneinander, daß ich in den Boden versinken möchte oder gleich davonlaufen, wenn ich nur wüßte, wohin.«

»Ach, daß ich doch recht und für immerzu helfen vermöchte!«

»Du wirst das schon können, wenn du einmal auf dem Stighof zu befehlen hast. Mir und dem Vater ist das jetzt immer der beste Trost –«

Dorothee sank auf eine Bank zurück. Marie bemerkte nicht, wie weh sie der Schwester mit diesen Worten getan hatte, denn sie sah den Vater kommen und erinnerte sich nun daran, daß sie zur Bereitung des gewiß schon fertig erwarteten Mittagsmahls noch nicht einmal Feuer angemacht habe.

Sie schickte Dorotheen aus dem etwas kühlen Vorhaus in die Stube, damit sie unbemerkt ein Ei und etwas gutes Mehl zur Bewirtung des seltenen Gastes in der Nachbarschaft auftreiben könne.

Dorothee begab sich in das dunkle Wohnzimmer mit dem großen Ofen und den schwarzen Wänden. Nirgends ein Schmuck oder etwas, das das Auge zu fesseln vermochte. Die Erinnerungen, die in Dorotheen erwachten, kamen ihr wie ein böser Traum vor. Sie dachte an die freundlichen Zimmer auf dem Stighof und sagte sich, daß es doch nur Ehrensache für Hansen wär', auch wieder einmal an dieses Nest zu denken. »Bist du auch da?« redete sie der Vater etwas unfreundlich an und ging dann, ohne ihr noch einen Blick zu gönnen, rasch in der Stube auf und ab.[276]

Heute schien keines der glatten Worte kommen zu wollen, mit welchen sonst ihr Lohn und ein besonderer »Gruß« der alten Stigerin erwartet wurden. Das erschreckte sie noch mehr, als was sie schon von der Schwester hören mußte. Sie wäre gern zu dieser in die Küche, doch wagte sie sich nicht mehr zu regen, als des Vaters kurze gedrungene Gestalt sich wie drohend hart vor sie hingestellt hatte. Lange saß sie zitternd und schweigend, bis sie endlich Mut gewann, der ihr unerträglich gewordenen Stille ein Ende zu machen. »Wie lebt Ihr, Vater?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Von einem Tag in den anderen, wenn das allen falls auch gelebt heißt«, antwortete das Mathisle, indem es sich zum Lachen zwang. Es gelang ihm aber so schlecht, daß es den Versuch sofort wieder aufgab und sich seufzend auf einen alten Lehnstuhl warf.

»Fehlt Euch etwas?« wagte das Mädchen wieder zu fragen.

»Alles.«

»Ich hab' Geld mitgebracht; freilich ist es nicht gerade mehr viel, aber –«

»Das wär' wenigstens das. Nur her mit. Ich höre Hansjörgen, den Lümmel, schon vor der Tür, und was der einmal sieht, hat unsereiner gesehen.«

Dorothee zog ein kleines Beutelchen heraus, welches ihr der Vater sofort entriß und einsteckte. Dann durchschritt er etwas langsamer als vorher die Stube und begann vom Wetter zu reden. Hansjörgen, der die Schwester kühl, aber doch freundlich begrüßte, schien des Vaters lange Lobrede auf die wunderschönen Herbsttage verdächtig vorzukommen. Lächelnd bemerkte er: »Es ist doch ein Glück, daß es immer so genug Wetter gibt. Immerfort hat der Vater etwas in dasselbe zu wickeln, und besonders erst halbfertiges Zeug liebt er darin zu verstecken. Aber gar so viel Wetter können wir doch in dem elenden Neste da nicht brauchen, drum will ich gleich eine Ladung mit hinausnehmen; auf die Art gibt's Platz und können wir nachher um so näher zusammenrücken.«[277]

Gar so schlimm konnte er doch nicht sein, der das jetzt so gemütlich sagte, nur um eine leicht zu machende Beobachtung auszusprechen, nämlich die, daß man ihn hier noch nicht vermissen würde. Er sollte jedoch dieses Gefühl nicht länger haben. »Bleib nur da!« sagte die Schwester und hätte gern etwas recht Witziges beigefügt, wenn ihr nur auch etwas eingefallen wäre. Ihr aber ging das Spötteln hier nicht so leicht wie dem Bruder, der sich nun auch über Marien lustig machte, da diese unter die Stubentür kam und rief, daß sie sich wahrhaft schäme, weil sie nicht einmal etwas Ordentliches aufzutischen imstande sei. »Wenn du dich schämst«, entgegnete er, »so brauchst du nicht vor uns zu stehen wie ein magerer Küchenzettel, sondern du kannst dich in den Mehltrog verstecken und mit dem Schmalztopf läuten, bis dein Schmarren verzehrt ist.«

Das nun aber war denn Dorotheen doch gar zu arg, und bei nächster Gelegenheit wollte sie den Bruder ernstlich daran erinnern, daß so etwas nicht einmal für Unbeteiligte ein Spaß sei, geschweige denn für solche, die darunter leiden müßten. Zu dieser Predigt aber kam sie nicht, hatte dagegen bald Ursache, dem Bruder dankbar zu sein, daß er alles niederspotten konnte, was wie ein böses Gespenst sich aufrichten und Schwermut erregen oder Unfrieden stiften wollte.

Unter dem Essen pflegen die Bregenzerwälder sehr wenig zu reden. Arme und Reiche löffeln schweigend ihre Suppe aus der für alle mitten auf den Tisch gestellten großen Schüssel und wischen alsdann den mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen bezeichneten Löffel am Tischtuch ab, was immer soviel heißt als: »Ich habe genug, und ihr könnt mit dem Dankgebet anfangen.« Hansjörg aber, der die üble Stimmung der Tischgenossen sah, schien viel mehr an die Erheiterung derselben als an die Stillung seines Hungers zu denken. Besonders gern beschäftigte er sich mit den Torheiten der Angesehensten in der Gemeinde. Für Dorotheen hatte dieses schonungslose Bloßlegen menschlicher Schwächen anfangs etwas ungemein Peinliches. Bald aber sah sie im Bruder nicht[278] mehr nur den scharfen Beobachter, der aus der Welt herein für die heimatlichen Verhältnisse ganz einen anderen Maßstab brachte, sondern einen herzguten Menschen, dem die Welt wohl wie ein aus erbärmlichen Kleinigkeiten zusammengesetztes Wehhaus vorkommen mochte, der ihr auch wirklich zuweilen mit dem halben Gesichte zu lachen und mit dem halben zu weinen schien. Recht lieb ward ihr Hansjörg, als sie einmal zu merken meinte, was er niederspotten und was darüber aufrichten wollte. Er schien ihr etwas, ja ziemlich viel vom Jos zu haben, drum ging denn auch ihr das Herz auf, und sie sprach einen Gedanken aus, den die bitteren Klagen der Schwester in ihr geweckt hatten. »Dem Jos«, begann sie, »hast du vorgerechnet, es sollte jeder sein eigener Brotherr sein. Dem Jos wolltest du auch dazu helfen, warum nicht ebenso dir und den Deinigen? Mit dem Geld, welches du in den Handel steckst, könntest du doch auch ein kleines Gütchen, eigene Arbeit kaufen.«

»Ja, ein sehr kleines Gütchen, welches wohl Arbeit machte, mich aber nicht nähren hülfe.«

»Warum nicht? Andere Leute –«

»Gut – andere Leute stehen auch nie auf dem Fleck Welt, wo ich just bin. Ein Bauerngut ist ein Werkzeug, wie eine Nadel, aber eins, das nur ein Kapitalist sich anschaffen kann.«

»Es muß aber doch auch seinen Zins tragen.«

»Nur den, der noch darauf liegt, und das ist in der Regel der wirkliche Wert des Anwesens. Man bringt aber auch ein Opfer, wenn man so ein Werkzeug will, man zahlt mehr als den wirklichen Wert. Auf einem großen Anwesen bringt man sich noch durch, auch wenn's gerade um das zu teuer ist, was man als eigenes Vermögen besaß; drum trachten die Bauern, die sich doch mit dem Hofe nur abgeben, so sehr auf Vergrößerung ihres Grundbesitzes, daß im kleinen gar nicht mehr anzufangen ist.«

Hansjörg mußte lange reden, bis es Dorotheen klar war, daß nur durch dieses Opferbringen für das Werkzeug der Preis der Bauerngüter bestimmt und mit dem durch den Holzhandel[279] und dergleichen wachsenden Geldreichtum so regelmäßig hinaufgetrieben werde, daß es schon zum voraus zu berechnen sei. Es war ihr heute eine Erholung, sich mit solchen die ganze Aufmerksamkeit fordernden Gedanken zu beschäftigen. Um so schmerzlicher traf es sie, als Hansjörg schließlich sagte: »Nun siehst du, wie schwer es geht. Ich bin schon zu alt, um noch reich zu werden, du aber machst am klügsten, daß du auf den Stighof kommst. Dann, wenn einmal der dicke Hans weg ist, kann auch ich mein Glück bei der Zusel wieder versuchen.«

»Ja, wenn!« rief das Mathisle, wischte den Löffel hastig ab, ließ sein Messer zuschnappen und begann dann das übliche lange Tischgebet so schnell, daß die anderen ihm kaum zu folgen vermochten. Dorothee, der Hansjörgs letzte Worte einen doppelten Stich ins Herz gaben, hatte noch selten so zerstreut gebetet. Wohl hätte sie für die Eigenen sich zur Herrin auf dem Stighof heiraten lassen mögen, solange sie sich nicht besser kannte; nun aber war das gegen ihr Gewissen. Sich schon so auf den Webstuhl gespannt und in hundert verschiedene Berechnungen eingezettelt zu sehen, kam ihr jetzt doppelt unheimlich vor. Dieser Hansjörg konnte so gut rechnen und sagen, was andere können und sollen, er aber tat nichts als reden. Wie anders war der Jos! Die besprochene Berechnung – sie war richtig, und eine Menge Beispiele dafür konnten leicht in der nächsten Umgebung gefunden werden – kam gewiß von dem guten Burschen. Aber der rechnete dann auch für sich einen Weg heraus, auf dem er mit seiner armen Mutter in Ehren durch die Welt kommen konnte. Sie nahm sich vor, das dem Bruder ernstlich ans Herz zu legen. Dieser aber verließ gleich nach dem Tischgebet die Stube, indem er sagte, daß Dorothee nicht seinetwegen gekommen zu sein scheine und er daher auch nicht länger stören möge.

Als es zum Nachmittagsgottesdienste läutete, wollte auch Dorothee mit ihrer Schwester, welche die fertige, wirklich zierliche Stickerei in ihr bestes Taschentuch eingeknüpft hatte,[280] die düstere Behausung verlassen. Doch das Mathisle befahl ihr zu bleiben, da man noch allerlei zu besprechen habe. Er ging der Schwester nach, um die Haustüre zu schließen, und kam dann schnell wieder in die Stube zurück.

Dorotheen ward himmelangst, obwohl der Vater jetzt bedeutend ruhiger schien, als da sie ihn zuerst gesehen hatte. In seinem unsicher und scheu herumirrenden Blicke suchte sie zu lesen, was nun kommen solle, bis er endlich fragte: »Warum hat dich der Kaplan heut' nicht losgesprochen?«

»Weil ich nicht versprechen wollte, meinen Dienst sogleich zu verlassen.«

»Aber was um Gottes willen hast du denn auch gebeichtet, du große Einfalt?«

»Eigentlich gar nicht viel. Er wollte nur wissen, ob Hans mir manchmal etwas geschenkt habe.«

»Das geht doch die Herren gar nichts an!« fuhr das Mathisle auf. »Soll man denn bloß für ihre Missionen und in ihre Klöster hinein schenken dürfen, die Eigenen seiner Dienstboten aber verhungern lassen? Oh, geh mir doch mit dieser –«

»Vater, ich bitte, redet doch nicht noch etwas Sündhaftes, erzürnet nicht auch den lieben Gott! Was habt Ihr in dem Elend als seine Gnad' und seine Liebe?«

»Er soll nur einmal kommen, dieser gerechte Gott, und soll gehörig dreinschlagen, daß man wieder ein wenig Respekt vor ihm bekommt. Jetzt geht es zu in dieser seiner Welt, daß man gar nicht mehr weiß, wo er ist.«

»Ach, Vater, wenn Ihr so redet –«

»Er soll nur auch die beim Kopf nehmen, die mich zur Verzweiflung bringen. Wenn er alles gar so genau nähme, so könnten gewiß nicht mehr alle Kapläne davon erzählen, und ich hätte schon eine viel bessere Welt angetroffen. Aber sag', was hast du noch mehr gebeichtet?«

»Das muß ich nicht und will ich nicht«, sprach Dorothee, sich stolz aufrichtend, mit fester Stimme.[281]

Einen Augenblick sah sie das Mathisle fast erschrocken an, dann fragte es spöttisch: »Was willst du denn, Mädchen?«

»In die Kirche, denn es ist die höchste Zeit.«

Mit einem Lehnstuhl bewaffnet, stellte sich der kleine Mann vor die Stubentür und schrie: »Du bleibst mir da und erzählst mir alles, oder es gibt ein fürchterliches, ein doppeltes Unglück. Ich merke, daß ich mich nicht mehr bezwingen kann. – Sage nur gleich, was hast du gebeichtet?«

»Nichts – als was ich schon gesagt habe.«

»Nichts – überall nichts«, jammerte der Vater. »Mit nichts kommt man zu nichts. Du Närrin, warum läufst du zur Kirche, wenn du nichts zu sagen hast? Der Kaplan hielt das wohl nicht für möglich, glaubte nur eine Heuchlerin vor sich zu haben, und darum wurdest du nicht losgesprochen.«

»Aber ich hab' mir, so wahr mir Gott helfen möge, gar nichts vorzuwerfen!«

»Bald genug wirst du auch nichts mehr zum Einstecken haben. Ich wollte lieber, daß du uns recht viel vorzuwerfen hättest.«

»Der Kaplan verstand mich nicht. Ich bleib' darum aber doch im Dienst und will auch immer nach Kräften helfen.«

»Solang das geht; aber wie lang wähnst du, Tröpflein, daß du noch bleiben könnest, nachdem du so herabgesetzt bist? Kurz und gut, jetzt ist's aus. Die Stigerin wird dich nicht mehr im Hause lassen.«

»Ich hab' aber doch nichts Unrechtes getan.«

»Das ist mir nur ein schlechter Trost.«

»Vater!«

»Ich weiß, was ich will, du aber willst mich umbringen mit deiner dummen Ehrlichkeit. Für Leute von unserer Art ist die liebe Tugend ein teurer Spaß. Wir müssen selbst schieben, oder wir werden geschoben. Ist es recht gewesen, den Hansjörg unter die Soldaten zu lassen? Recht? Lächerlich! Aber klug war es, wenn man auf dich rechnen konnte. Mit der Zusel ist's aus gewesen, da hat's nun gegolten, den Hans anzubinden an sein Gewissen. Bloß den Krämer mit seiner Forderung hätt' ich allenfalls schon noch abfertigen können.«[282]

Das Mathisle redete mit einer Kälte, die Dorotheen das Blut beinahe zum Stehen brachte. Nun aber fuhr es wild auf: »Der Bursche konnte tot, zum Krüppel geschossen werden, dennoch hab' ich ihn gewagt, um den Töchtermann zu fangen. Durch dich aber, du närrische Tugend, hab' ich beide verloren. Dein Ruf ist hin durch deine Schuld, und auch uns hast du die ganze Zukunft verdorben.«

»Ich hab' aber doch nichts getan.«

»Das ist der Trost jedes Faulenzers, aber damit bringt man es nicht weit. Ich wollte bei Gott lieber, der Kaplan hätte Grund gehabt, dich nicht loszusprechen. Aber so wegen nichts und wieder nichts aus allem heraus und so ins Geschrei hineinzukommen, das – ja, Mädchen, das ist schon zum Wütendwerden!«

»Aber«, wagte Dorothee dem wirklich beinahe rasend gewordenen Vater zu erwidern, »ehrlich währt denn doch am längsten. Hansjörg mit aller List und Berechnung bringt es auch zu nichts, wie mutig, ja toll er es auch anfängt; dagegen ...«

»Hansjörg ist ein Lümmel. Er mag nicht, und du kannst nicht; aber was hast du noch mehr sagen wollen?«

»Dagegen kommt Jos in Ehren, und wenn auch langsam, doch sicher, immer mehr empor.«

»Hab' ich mir doch gedacht, daß es da steckt!« schrie das Mathisle und schwang den noch immer krampfhaft festgehaltenen Stuhl um sich herum, daß es surrte. »Herrgott im Himmel! Also darum nur mußt du beichten? Du dummes, leichtsinniges, elendes Ding bringst mich noch rein um!«

»Vater!«

»Nichts mehr, kein Wort mehr dein Lebtag, du verfluchter und vermaledeiter Balg, wenn du noch etwas mit diesem Schneider, diesem hergeschmuggelten Bettler zu tun hast.«

»Aber –«

»Schwöre mir ihn ab, gleich, bei allem, was du hoffest und wünschest, was dir heilig und trostreich ist!«[283]

Draußen begann der Hund zu bellen. »Vater«, stammelte das Mädchen, »wenn jetzt jemand kommt –?«

»So wird man etwas Greuliches, unsere ermordeten Leichen, sehen, wenn du nicht schwörst.«

»Ach du mächtiger, grundgütiger Gott!« jammerte Dorothee. Der Vater mit seinem Stuhl kam näher. Er schwang ihn so gewaltig, daß er an der niedrigen Decke der Stube ein Bein abschlug. Das Hundsgebell wurde wilder.

»Dorothee!« stammelte der Wütende.

»Ich schwöre ja!« schrie das Mädchen und sank auf die breite Ofenbank zurück.

Das Mathisle stand lange stumm und bewegungslos, als ob es sich auf das eben Vorgegangene besinne. Dann wollte es sehen, was dem Kinde fehle, welches wie leblos auf der Bank lag. Da bellte der Hund noch wilder. Wer um Gottes willen kam denn jetzt? Es eilte, wieder mit dem Stuhl bewaffnet, ans Fenster und sah nun den Krämer mit einem überkindeten Bauern vorüber-, vermutlich seinem Walde zu schreiten. Die beiden warfen dem treuen Wächter Steine nach und machten ihn so wütend, daß ihn auch das noch immer zitternde Mathisle kaum zu beschwichtigen vermochte.

Bis es ihm gelang, unbemerkt an den Vorübergehenden das aufgeregte Tier zu sich ins Haus zu locken und zum Schweigen zu bringen, hatte sich seine Stimmung bedeutend gemildert. Mit einer gewissen Scheu ging er langsam in die Stube zurück, wo er Dorotheen noch gerade so traf, wie er sie – nach seinem Dafürhalten schon vor langer Zeit – verlassen hatte.

So leise wie nur möglich setzte sich der Mann auf die knarrende Bank und wagte kaum zu atmen, bis das Mädchen, endlich sich langsam aufrichtend, wie im Traume sagte: »Ach Gott, wie war das eine böse, eine schreckliche Stunde!«

»Ich bin weit getrieben worden«, stammelte der Vater. »Ich will und muß auch Gewalt brauchen, wie der Krämer. Der aber hat's angefangen und ist viel der größere Sünder als ich; den müßte Gott zuerst, lange vor mir strafen. Einmal hab' ich an die Gerechtigkeit geglaubt, jetzt aber weiß ich, daß man[284] sich selber helfen muß, so gut oder so schlecht man kann.«

»So will ich meinen Vater nun nicht mehr hören!« rief Dorothee. Mit furchtbarer Kraftanstrengung sprang sie auf und verließ die Stube. Der Vater suchte sie nicht mehr daran zu hindern. »Wir haben uns verstanden«, sagte er scharf. »Gewalt für Gewalt, wenn die göttliche Gerechtigkeit schläft. Solang die Reichen mit den Menschen machen, wie sie wollen, solange Gott dem Krämer sein Handwerk nicht legt, gilt zwischen uns, was wir eben ausgemacht haben.«

Unter der Stubentür kehrte Dorothee sich noch einmal um und schien etwas sagen zu wollen. Sie warf einen langen, wehmütigen Blick in die dunkle, unfreundliche Stube. Dann plötzlich drehte sie sich um und verließ das Häuschen so schnell, als ob der Boden unter ihren Füßen zu brennen begonnen hätte.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 271-285.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Reich und arm
Reich Und Arm (Sammlung Zenodot) (Paperback)(German) - Common
Reich Und Arm; Eine Geschichte Aus Dem Bregenzerwald Von Franz Michael Felder
Reich und Arm

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon