Einundzwanzigstes Kapitel
Wie Dorothee die Lossprechung bekommt

[285] Als Dorothee wieder im Freien war und sich von einem frischen, kräftigen Lufthauch angeweht fühlte, wollte das eben Erlebte ihr nur noch wie ein schrecklicher Traum vorkommen. Hatte sie so Ungeheures wirklich gesehen und gehört, oder war es nicht vielmehr eine Vorstellung aus jenem Zustande, in dem sie ziemlich lang auf der breiten Ofenbank gelegen sein mochte? Sie besann sich, wie es denn vorher gewesen, bis sie wirklich den Vater wiedersah mit dem Stuhl in der Hand und seine Worte nochmals zu hören meinte. Es war aber alles das so – närrisch, daß sie selbst diesen Vorstellungen, wie sie sie auch erbeben machten, noch immer nicht glauben wollte. Das fromme Mädchen war, wie beinahe jede Bregenzerwälderin, von der Schule auf gewöhnt, in allen Ereignissen einzig bloß Belohnung und Strafe des gerechten Gottes zu sehen. Das heutige Erlebnis aber wußte sie mit nichts aus ihrer Vergangenheit in Zusammenhang zu bringen. Hatte sie, der traurigen Lage der hilflosen Ihrigen gedenkend,[285] sich in der letzten Zeit auch als Herrin auf dem Stighofe gewünscht, so tat sie das gewiß niemals aus Selbstsucht, und es war zu hart, daß der Vater, für den sie sich opfern wollte, sogar an den guten Jos zu denken verbot. Unrecht, ja wohl sogar Sünde – das gestand sie sich nach langer, sorgfältiger Gewissenserforschung – war es freilich gewesen, daß sie schon ganz im Ernste an eine Verehelichung mit Hansen dachte. Sie schätzte den Burschen – und vermutlich nur der erhaltenen Wohltaten wegen – zu hoch und verzieh ihm zu viel. Hatte sie es doch noch gar für eine Gnade gehalten, daß er sie nicht aus dem Dienste jagte, nachdem sie ihm wegen seiner Treulosigkeit gegen Jos ein wenig die Meinung gesagt. Und schon vor Jahren fand sie es ganz in der Ordnung, daß der Bruder seine Freiheit, seine Zukunft um ein Sündengeld an den reichen Burschen verkaufen mußte. War's zum Verwundern, wenn man jetzt, wo das erhaltene Geld verbraucht sein mochte und sich an Hansjörgen die Folgen jenes Bluthandels zeigten, vom Stighof einen weiteren Ersatz zu fordern sich berechtigt wähnte? Mußten Vater und Bruder nicht annehmen, sie betrachte Hansen schon als den Künftigen, da sie nicht ein tadelndes Wort für jenen bedauerlichen Handel hatte? Sie hätte mit Zusprechen und Bitten das alles verhindern können. Auch der Bruder war, wie sie, zu einem furchtbaren Eide gezwungen worden, der alle seine Hoffnungen zerstörte und ihn, den trotzig gewordenen, zum Kriege trieb gegen die gesellschaftliche Ordnung. Nun hatte das Mädchen die Schuldge funden, welche es büßen zu müssen meinte. Schaudernd blickte es zum tiefblauen Himmel empor und dankte dem Gerechten für diese Erkenntnis, die ihm in diesem Augenblicke wirklich ein großer Trost war und Kraft verlieh, auch dem Ärgsten mutig und voll Vertrauen auf den weisen Leiter der Menschenschicksale entgegenzugehen. Jetzt mußte sie die Folgen früherer Herzlosigkeit tragen; einmal hätte sie es anders machen können. Freilich wäre dadurch all dieses Elend nicht unterblieben; Hans hätte doch einen Ersatzmann gekauft und vermutlich das Lebensglück eines anderen zerstört.[286] Sie und die Ihrigen trugen nur am Elend, an der Not der ganzen Klasse. Arme Leute mußten sich eben verkaufen lassen auf die oder auf jene Art; drum war's, wenn auch nicht recht, so doch erklärlich, daß der Vater, der das wohl oft im Leben erfuhr, den höchsten Preis aus ihr lösen wollte. Lange stand Dorothee auf der Brücke, die über die Ach führt, und beschäftigte sich mit diesen neuen Gedanken, bis sie trotz Sonnenschein und warmer Herbstluft wie im strengsten Winter zu frieren begann. Nur schon weil sie arm war, mußte sie für eine listige Verführerin gelten, die den reichen Burschen um jeden Preis in ihr Netz zu bringen suche; der Besuch daheim und was sie da zu erleben hatte, bewies deutlich genug, daß dieses Vorurteil gegen die Armen auch nicht ganz unbegründet war. »Macht denn das Geld auch tugendhaft?« fragte sich das Mädchen, blickte aber dabei nicht mehr zum Himmel empor, sondern nieder in den Strom, der unter der Brücke dahinbrauste. Wenn jetzt die Brücke zusammengebrochen wäre – dann hätte doch alle Not ein Ende gehabt ... für sie wenigstens; die Ihrigen freilich ...

»Du wirst dir da nicht etwa gar noch ein Leid antun wollen?« fragte die helle, klangvolle Stimme der Kronenwirtin das Mädchen, welches über dieses Erraten seiner Gedanken noch mehr als über die unvermutete Anrede der Frau erschrak, die, ohne bemerkt zu werden, bis hart neben Dorotheen herangetreten war.

»Ich wollte nur – ich komm' eben vom Vater herüber«, stammelte die Verlegene.

»Ich glaub' schon, daß es nicht so weit mit dir ist, aber eben drum solltest du dich auch nicht öffentlich in so einen Verdacht bringen. Die Kirche ist aus, und mehr als hundert Augen blicken von allen Seiten auf dich. Was man dabei denkt, kann ich, die sonst doch nicht eben zu den Bösdenkenden gehört, mir selber abnehmen.«

Dorothee schloß unwillkürlich die Augen.

»Ich hab' dich von meinem Haus aus gesehen und bin geschwind herüber, um dich zu holen, denn mir fiel etwas[287] Schlimmes ein. Jetzt aber seh' ich, daß dir gar nicht wohl ist. Du zitterst, als ob es Winter wär', und dabei glühen deine Wangen wie im Fieber. Komm nur mit mir und trink vor allem ein kräftiges Glas Wein; das wird dir wohltun an Leib und Seele. Unterdessen verlaufen sich dann die Leute wieder ein wenig. Es wird dir lieb sein, nicht gar so vielen Blicken zu begegnen.«

»Ich bin ein armes Mädchen«, sagte Dorothee, »das ist das einzige, dessen ich mich zu schämen hätte.«

»Vor mir nicht«, sagte die freundliche Wirtin. »Wenn das das Ärgste ist, so richte dein Köpflein nur wieder auf und denke, du seiest noch lange nicht am schlimmsten dran.«

»Aber schlimm genug«, meinte Dorothee, welche der Wirtin langsam folgte.

»Du hast recht – wenigstens zum Teil. Nennt man doch im gewöhnlichen Leben das Betragen eines liederlichen, streitsüchtigen und unredlichen Menschen ein ärmliches. Er tut ärmlich! Damit ist einem sein Urteil gesprochen.«

»Ja«, fiel Dorothee leidenschaftlich ein, »und wenn man es anders will und nicht sein Herz und die Ruhe des Gewissens ums Geld verkauft, so handelt man gegen die Ordnung und mag es büßen. Nirgends wird man verstanden, nirgends mehr geschätzt.«

»Ach, Mädchen, was mußt du gelitten haben, daß du so urteilen lerntest! Aber gar so arg ist es denn doch nicht. Zwar niemand hat die ganze Welt und kann allem das Rechte treffen; aber liebe, gute Menschen, denen man ganz trauen kann und darf, solche findet jeder, der ihrer wert ist. Hast du denn keine mehr?«

Dorotheen traf der Wirtin vorwurfsvoller Blick. »Kann und darf!« wiederholte sie. »Noch vor fünf Minuten hab' ich niemand gehabt, jetzt aber ...« Tränen erstickten ihre Stimme. Unterdessen waren sie vor dem Wirtshaus angelangt. Die Frau führte Dorotheen am Arme die steinerne Stiege hinauf und durch die geräumige Küche ins Herrenstüble, um den Blicken der im Gastzimmer Anwesenden zu entgehen.[288]

Es war Dorotheen ganz wunderbar zumute, als sie einige Minuten später im sauber getäfelten Zimmer mit den wunderbar schönen Bildern und dem großen Spiegel vor einem guten Schoppen saß und durch die halboffene Türe die in dem vollen Gastzimmer geführten Gespräche hörte. Viele suchten für die nächsten Tage Arbeit und Brot, boten ihre Arbeitskraft öffentlich an und trieben sich dabei die Löhne herunter. Nun wurde die Waldung versteigert, welche der Krämer unter dem Gottesdienst mit dem bisherigen Besitzer besichtigt hatte. Der Krämer bot etwas über den verhältnismäßig sehr niedrigen Anschlag, und nun wartete der Ausrufer vergebens auf ein höheres Angebot. Endlich schrie man ihm von allen Seiten zu, er solle doch der langweiligen Geschichte ein Ende machen, da ja der Krämer schon mit allen eins sei, welche die Mittel hätten, den Wald zu kaufen.

»Nicht wahr, da geht's wunderbar zu?« fragte die Wirtin, als sie endlich wieder etwas freie Zeit für ihren Gast im Herrenstüble gewann.

»Es tut einem weh und wohl zugleich, das Durcheinander zu hören«, antwortete Dorothee. »Weh, so viele leiden zu sehen, und fast wohl, da man das Eigene dabei wieder ein wenig vergessen kann. Es ist doch ein Trost, wenn auch ein schwacher, sich mit so vielen leidend zu denken. Man lernt den anderen vieles vergeben, und Gott wird hoffentlich noch barmherziger sein, als man selber ist.«

»Wenn man sich nur nichts vorzuwerfen hat.«

»Wer ist so gut?« fragte Dorothee.

»Oh, viele sind nicht schuld an ihrem Unglück.«

»Das wollt' ich sonst nie glauben.«

»Und nun?«

»Hab' ich es erfahren und empfunden. Jetzt aber möcht' ich wissen, was denn Gott tut.«

»Er hat die Menschen einander gegeben, daß sie sich lieben und sich helfen nach seinen Geboten, nicht so sich bekriegen, wie du es da draußen und überall hörst. Tun sie das nicht, so folgt die Strafe von selbst. Den Reichen kann sein Überfluß[289] tiefer hinabdrücken als den Armen seine Not. Oder um wieviel ist der Krämer besser, seit er einer der Reichsten wurde? Er hat nur noch mehr Gewalt für seinen bösen Willen. Ja, Mädchen, mir hat der Pfarrer genug erzählt.

Wer im Beichtstuhl redet, daß man ihn nicht lobt, gilt mir mehr als die, welche sich dann, sei es aus Dummheit oder Lieblosigkeit, über ihn hermachen, als ob kein guter Faden mehr an ihm wär'. Das sag' ich unverhohlen. Wenn der Krämer mit seinem Anhang dich noch um den Dienst bringt und du dann als ehrliche, unverdorbene Magd zu mir kommen kannst und magst, so will ich dir mit Freuden die Tür auftun, es mag dann Tag oder Nacht sein.«

»Das ist guter Bescheid und großen Dank wert«, antwortete Dorothee gerührt. »Glück, Gunst, Neigung, alles ist übernächtig auf der Welt. Man kann immer nur sagen, was gewesen ist, nie, wie es noch kommen wird. Aber nicht bloß darum, schon als Beweis des Vertrauens tut mir der Antrag recht im Herzen wohl, wenn ich auch nicht glaub', daß ich so schnell werde daraus Ernst machen müssen. Der Hans gibt um solche Redereien nicht viel.«

»Aber heut' haben sie ihm schon auch warm und kalt gemacht.«

»Meint Ihr?«

»Ich weiß es. Heut', als er nach dem Gottesdienst seinen Enzianer trank, ging es gehörig über ihn her.«

»Was haben sie gesagt?«

»Sei nur froh, wenn du es niemals hören mußt. Des Kaplans Predigt und deine Beicht' nimmt man zusammen und glaubt, entweder mit Hansen oder dem Jos müsse nicht alles in Ordnung sein. Man beginnt schon, den reichen Bauern so halb und halb aus der Sache zu wickeln.«

»So!« rief Dorothee mit einer Lebhaftigkeit, welche die Wirtin zuerst fast erschreckte, »der Jos ist also jetzt auch noch mit hineingekommen! Das laß ich mir gefallen. Er kann sich nun um so eher denken, daß an dem ganzen Gerede kein wahres Wort sei.«[290]

Die Wirtin blickte Dorotheen erstaunt an und sagte nicht ohne Strenge: »Was Hans denkt, ist jetzt für seine Magd am wichtigsten.«

»Hans steht auf sich selbst und tut, was er will.«

»Du kennst die Welt noch schlecht, wenn du glaubst, daß nur wir Weiber uns nach dem Winde drehen. Ja, dann ist's zum Teil gut, daß Gott dich schon jetzt etwas erfahren läßt.« Die Wirtin wurde wieder in die Stube gerufen. Auch Dorothee stand auf, dankte für den Wein und noch mehr für das, was dabei ihr Herz erleichtert hatte.

Die freundliche Frau war anfangs bemüht, Dorotheen, die ihr noch sehr aufgeregt schien, zurückzuhalten, da ja das Glas noch nicht einmal zur Hälfte geleert sei. Dorothee sagte jedoch, sie wäre soviel derlei Getränk gar nicht gewöhnt, wenig aber mache ihr leicht und wohl. Zudem sei es ihr immer, als ob es nicht recht wäre, so in einem fremden Hause vom Brotherrn zu reden, während es daheim vielleicht dies und jenes zu tun gäbe.

Sie sehnte sich wirklich zurück zu den stillen häuslichen Verrichtungen, die ihr die Stigerin seit längerer Zeit fast ganz allein überließ. Da vergaß sie alles andere, konnte den Zusammenhang leicht übersehen und war ganz in ihrer Welt. Das Reden und Tun der Menschen aber tat ihr weh und drückte ihr Herz wie eine Last, unter der sie sich nicht mehr frei regen konnte, wie gern sie auch eingegriffen und etwas getan hätte. Ja, sie kannte die Welt noch nicht, da hatte die Wirtin ganz recht; aber sie wußte doch schon zuviel von ihr, als daß ihr das Plaudern der Leute in der Gaststube und das Klingen der Gläser noch ein Vergnügen machen konnte. Das schönste war für sie und das beste, treulich ihre Pflicht zu tun, daß kein Mensch einen Grund zum Tadeln hatte. Dann konnte sie das Gerede vorüberschwirren lassen wie einen Herbststurm, vor dem sich kein Mensch fürchtet, wenn er nur sein Schindeldach gehörig mit Steinen überlegt und festgedrückt hat und auch sich selbst nicht auf der weiten Gasse befindet. Wäre sie heute wie sonst ordentlich zu Hause geblieben,[291] statt sich großtun zu wollen mit ihrem Gelde, dann hätte sie gewiß nicht so Schlimmes erlebt. Mit solchen Gedanken kam sie vor den Stighof, den sie ihr Daheim zu nennen so gewohnt war, daß sie es auch noch jetzt nicht lassen konnte, obwohl sie eben von den Eigenen kam und nicht wußte, wie lange sie noch hier bleiben durfte. Sie begrüßte das Haus, schon da sie nur dessen hohen Dachstuhl über die anderen Häuser herüberragen sah, mit dem Gefühl des Wanderers, welcher eine liebe Stätte, den Schauplatz seiner frohesten Tage, nach langer, mühevoller Reise wieder betritt mit dem festen Vorsatze, nun – wenn's irgend möglich – für immer dazubleiben und unbekümmert um die Welt, die er nun genugsam kennt, sich hier so nützlich und angenehm als nur immer möglich zu machen. Aber wie es dann gewöhnlich solchen Wanderern begegnet, daß sie nicht mehr alles finden, wie sie auf mühevoller, unsicherer Fahrt sich's träumten, so fand auch Dorothee nicht mehr alles, wie sie es erwartet hatte und gewohnt war. Etwas freilich mochte davon kommen, daß sie jetzt auch zu scharf beobachtete, zu ängstlich jedes an sie gerichtete Wort auf der Goldwaage wog, um nicht sowohl Hansen als die Stigerin ganz erstaunlich verändert zu finden.

Was die Stigerin heute morgens noch mehr als Vermutung aussprach, indem sie der Liebe zum gutmütigen Sohne und der Abneigung gegen Jos folgte, hörte Hans nach dem Gottesdienste überall so bestimmt behaupten, daß ihm die Sache mehr als bedenklich zu werden begann. Die Leute glaubten, es geschehe dem Burschen gewiß ein großer Dienst, daß er noch so ziemlich ungeschlagen aus der Geschichte gewickelt werde; doch sie täuschten sich. Wenn Dorothee so falsch war, dann konnte man an keine Tugend mehr glauben und keinem Menschen trauen. Das aber wäre Hansen unerträglich gewesen. Er glaubte fest noch immer an Dorotheens Unschuld, daher war es ihm nicht genug, daß das Gerede ihn selbst jetzt schonte. Unschuldig mußte das Mädchen sein, aber seine Neigung zum Jos – ja, die hielt er jetzt für eine ausgemachte[292] Sache, und das wurmte ihn mehr, als er sogar sich selbst gestehen wollte. Davon wohl kam es hauptsächlich, daß er den Vorschlag der Mutter, Dorotheen um jeden Preis und so schnell als möglich aus dem Hause zu bringen, immer vernünftiger fand. Ärgerlich, daß nun das frohe Zusammenleben mit Dorotheen, die ihm die Schwester ersetzte, noch auf so unangenehme Weise zu Ende sein sollte, erklärte er sein Einverständnis mit dem Plane der Stigerin auf eine Weise, daß diese nicht wußte, was sie daraus machen sollte. »Mit diesen Weibsbildern«, murrte er, »sollte man gar nichts zu tun haben oder, wenn das nicht geht, gleich die Allerärgste heiraten, damit sie sich für einen gegen die anderen Weibsleute wehre. Dieses Gelärm wird mir denn doch zu arg, seit auch ein Geistlicher dahintersteckt, der das Unheiligste bekreuzigt und segnet, daß jeder schon zum voraus verdammt ist, der sich noch dagegen wehren will. Dorothee muß heiraten, und wenn sie noch keinen hätte, so tat gleich ich sie nehmen aus purem Trotz; aber man kann ja darüber reden.«

Unter der Kinderlehre kam Hans zu dem Entschluß, das Mädchen gleich offen zu fragen, ob es lieber ihn oder den Jos zum Manne möchte. Nach dem Gottesdienste eilte er gleich heim, obwohl er wußte, daß in der Kronenwirtschaft eine Versteigerung stattfinden sollte, bei der er nicht ungern auch ein wenig mitgetan hätte. Ungeduldig wartete er nun auf die Magd; aber die wollte nicht kommen. Das verdarb ihm von neuem seine Stimmung, und bald war er mit der Stigerin wieder übers Kreuz, da er sich nun gar nichts mehr sagen lassen wollte. So, unzufrieden über das lange Ausbleiben und noch aufgeregt vom Wortwechsel mit der Mutter, traf ihn die Magd, welcher er jetzt um alles kein gutes Wort hätte geben können. »Ich hab' schon gedacht, du machest eine Wallfahrt nach Einsiedeln oder Rankweil«, brummte er. »Mädchen, die man nicht mehr losspricht, suchen gern die Beichtväter dort auf, die sie nicht kennen und längst allerlei Brocken gewohnt sind.«[293]

Solchen Gruß erwartete das Mädchen nicht. Die Wirtin schien also ganz recht zu haben, wenn sie besorgte, daß es hier nicht lange mehr gut tun werde. Etwas hastig antwortete sie Hansen: »Ich kann schon auch hier losgesprochen werden, wenn ich nur verspreche, was man will.«

Hans bereute zwar seine Rede; doch um sich das nicht anmerken zu lassen und weil er hoffte, mit dem armen Mädchen schon so nach und nach wieder einlenken zu können, fragte er mit erzwungener Härte: »Was will man denn?«

»Daß ich dich – daß ich den Dienst verlassen soll«, antwortete das Mädchen, welches durch diese Frage und diesen Ton sich aufs neue verletzt fühlte.

»Das ist wohl auch das allergescheiteste«, bemerkte die Stigerin, welche beide nicht ungern auseinandergeraten sah. »Man muß sich immer in die Zeiten oder die Menschen schicken, wie sie sind, und dafür sorgen, daß die Kirche noch im Dorfe bleibt. Wir sind lange friedlich beieinander gewesen und wollen uns nun auch im Frieden trennen, wenn einem Gerede, das dir mehr als uns schadete, nur dadurch noch abzukommen ist.«

Dorothee hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sagte nun mit halberstickter Stimme: »Oh, dieses Reden alles braucht es nicht. Nur durch euere Güte bin ich hergekommen als armes Kind und gehe nun mit dankbarem Herzen. Mit schwerem Herzen freilich auch; aber ihr verzeiht mir es wohl, wenn ich nicht so leicht ein Haus verlasse, wo so viele Lieb' und Güte mich fast vergessen ließ, daß es nicht meine Heimat sei. Nun, Gott wird mich weiter führen«, fügte sie nach einer Pause bei und wollte, da sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, das Zimmer verlassen.

»Wohin denn gleich?« fragte die Stigerin etwas unsicher.

»Meine Sachen einpacken«, antwortete Dorothee.

»Das tut nicht gar so not«, wehrte die Stigerin. »Gleich schon zum Jos hinein wirst du denn doch nicht wollen, heim aber kommst du noch lang. Man gönnt jeder Magd so viel Zeit, daß sie sich gehörig auf den Umzug vorbereiten kann. – Und[294] du bist mir mehr gewesen als Magd«, fügte sie immer weicher werdend bei. »Ich merke so etwas an mir selbst. Ich hab' mir fest vorgenommen, für dich zu sorgen, und will es auch halten, drum darf dir für die Zukunft nicht gar zu bange sein. Komm nur, wenn dir etwas mangelt, und auch an einem hübschen Zehrpfennig soll's nicht fehlen.«

Dorothee schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte gewiß nie nur einen Kreuzer Lohn von euch genommen, wenn's mir nicht um die armen Eigenen gewesen wäre. Aber etwas dafür nehmen, daß man jetzt meiner los wird, kann ich sogar diesen zuliebe nicht.«

»Aber dir zuliebe dürftest und wirst du, wenn du wieder zu dir selbst kommst, doch nehmen, was wir dir als Beweis unserer Zufriedenheit von Herzen gern geben.«

»Solche Beweise hab' ich täglich bekommen und mich daran gefreut, ohne mich einer Sünde zu fürchten. Jetzt aber sind wir fertig. Meinen Lohn hab' ich heute den Eigenen gebracht und – ich muß offen sagen – auch da wieder von Herzen für die Rettung aus dem Hause drüben gedankt. Aber jetzt – Mutter – Stigerin – laßt uns scheiden und uns das Herz nicht noch schwerer machen –«

»Das wird mir nun doch gar zu ernsthaft«, sagte Hans in einem Tone, welcher deutlich verriet, wie sehr die letzten Worte des immer schöner und schuldloser vor ihm stehenden Mädchens ihn ergriffen. »Wo um Gottes willen wolltest du doch gleich wieder ein ordentliches Unterkommen finden?«

»Dafür«, antwortete Dorothee, »haben Gott und gute Menschen schon gesorgt. Ich kann gleich heut' noch als Magd bei der Kronenwirtin einstehen.«

Hansen hatte wohlgetan, sich das arme Mädchen ganz von ihm abhängig zu denken. Nie hatte sich sein Kopf stolzer aufgerichtet als bei dem Gedanken, daß er dieses holde Wesen aus seiner Niedrigkeit erheben und auf einen seiner würdigen Platz stellen könne mit einem Worte.

Schmerzlicher traf ihn noch nichts als die Mitteilung, daß das Mädchen ohne sein Wissen und Zutun sich geholfen habe.[295] Er fuhr auf, wie wenn ihn eine Wespe gestochen hätte. »Also darum«, rief er zornig, »hat die Mutter vom Jos heut' so viel mit der Wirtin zu zischeln gehabt unter der Kirchentür.«

»Ich weiß das nicht.«

»Aber ich weiß nun, daß du falsch bist wie Galgenholz. Alles war heimlich abgekartet. Uns ging das nichts mehr an. Wir haben jetzt lange genug für dich gesorgt.«

»Sei das, wie es wolle«, beruhigte die Stigerin den Sohn, welchen seine Aufregung kaum noch auf dem Stuhle litt. »Jeder Mensch hat ein Recht, für sich selbst auf seine Weise zu sorgen, und er soll das auch, wenn er sich einmal seinen Erziehern entwachsen glaubt. Der Platz in der Krone ist nicht schlecht, wenn man mit der Alten auszukommen weiß.«

»Ich wünsch' ihr Glück«, sagte Hans unmutig, »und mehr scheint sie von uns nicht mehr zu wollen.«

Dorothee ging oder vielmehr wankte weinend in ihr Zimmer; Hans holte einen großen Sack aus der Rumpelkammer, warf ihn vor die Mutter auf den Tisch und rief: »Den da kann man ihr bringen, wenn sie gleich einpacken will.«

»Sei doch nicht so ungeschickt!« bat die Mutter.

»Ja, gelt, daß sie mir nicht noch überall Böses nachredet wie eine fortgejagte Wäscherin? Oh, nicht eine Hand tat ich dafür umkehren. Sie soll nur machen, wie sie will, denn schon zu lange hat sie sich immer verstellen müssen, daß man glaubte, Roß und Wagen könnten sie nicht von uns bringen.«

»Es ist aber doch recht, daß sie geht«

»Ganz recht. Jos könnt' am End' gar noch eifersüchtig auf mich werden. Drum wird sie so große Eile haben.«

»Du hast vergessen, was das Gerede der Leute dabei tat.«

»Ich wäre fest gestanden, und sie hätt' es neben mir wagen dürfen. Aber da muß man sich immer nach dem Nebel richten wie die Weiber bei der Wäsche. Zuerst lauter Wörtlein, so eben und glatt, daß man darauf leicht fallen und den Kopf verlieren könnte; dann läutet's eine ganz andere Glocke, und[296] nun macht man einen Kopf und dreht sich und geht wie ein Bettler von einem Wucherer.«

»Du bist sonst im Urteilen so billig als einer.«

»Ich hab' auch noch nie so was Unbilliges erlebt. Was heißt das bißchen Lärm gegen das, was Angelika leidet; aber die ist noch nicht davongelaufen, obwohl es auch einen geben tät, der sie besser zu schätzen wüßte als ihr Mann.«

»Großer Gott«, jammerte die Stigerin, »muß ich meinen Buben so sündhaft reden hören von dem Weib eines anderen! Schäme dich vor dem hellen Tag!«

»Ich bin nicht schuld, daß sie das Weib eines anderen wurde.«

»Nun«, begütigte die Mutter, »ich hab' jetzt nichts mehr gegen die Verwandtschaft, und Zusel, die hübschere, ist noch zu haben.«

»Ja, falscher, treuloser als Dorothee kann sie gewiß nicht sein, und dabei ist sie zu herzhaft, um sich wegen einem Gerede zu kümmern. Immer lustig, hübsch, klug; ja, die Zusel ist nicht so übel und dabei der Angelika fast ähnlich.«

Während Mutter und Sohn sich so allmählich wieder näherten, hatte Dorothee ein Kleidungsstück nach dem anderen in den Überzug ihrer Bettdecke zu packen begonnen. Sie kam damit um so langsamer vorwärts, weil sie immer wieder daran denken mußte, bei welcher Veranlassung sie dies und jenes erhielt Erst jetzt empfand sie es recht lebhaft, wieviel sie diesen Leuten zu verdanken hatte. Zuerst glaubte sie, so, noch halb im Unfrieden und mit dem Gefühl, daß ihr sehr unrecht geschehen sei, werde sie am leichtesten gehen; doch beim Anblick der vielen Geschenke Hansens und der Stigerin nahm ihre Aufregung bedeutend ab. Endlich aber fragte sie sich: »Bist du denn gar so in diese Herrlichkeiten vernarrt?«

»Nein!« rief sie, indem sie alles ordnungslos aufeinander warf, um dann so schnell als möglich von hier fortzukommen. Dennoch war es schon beinahe dunkel, bis endlich alles beisammen war, was sie nicht einzupacken vergaß. »Nun, in Gottes Namen!« sagte sie, indem sie ihr Bündlein anfaßte, sich noch einmal die großen Tropfen von den Wangen[297] wischte und dann mit geschlossenen Augen das Zimmer verließ.

In der Stube war ihr nicht mehr anzumerken, wieviel sie in den letzten Viertelstunden gelitten hatte. »Ich will Euerer Erziehung immer Ehre machen«, sagte sie beinahe heiter zur Stigerin, welche die Fassung des Mädchens um so mehr in Erstaunen setzte, da sie selbst das Weinen kaum erwehren konnte.

»Geh mit Gott, und der heilige Schutzengel begleite dich und zeige dir gute Wege und gute Menschen!« sagte sie, indem sie in das Weihwasserkrüglein hart neben der Türe langte und des Mädchens Stirne segnend bekreuzigte.

Dorothee bat noch, ihr Hansen, welcher nirgends mehr zu sehen war, herzlich zu grüßen und ihn um Verzeihung zu bitten wegen allem Unrechten, was sie je aus Schwäche oder Unwissenheit gesagt und getan habe. Dann verließ sie die Stube und das Haus.

Jetzt war sie im Freien, im Weiten, allein. Ihre Erzieher hatte sie verlassen, ihre größten Wohltäter. Nun wollten wohl auch die Eigenen nichts mehr von ihr hören, und den guten Jos hatte sie abschwören müssen! Im ersten Augenblicke kam ihr das alles wie eine ungeheure Übereilung vor, und sie wußte nicht, ob sie vorwärts gehen sollte oder wieder zurück. Dann aber entsann sie sich des Geschehenen und jedes gewechselten Wortes ganz genau und ohne dabei wieder weich zu werden. »Wo es einmal so klingt, ist gut gehen«, sagte sie sich und schritt rasch durch das Herrendorf hinaus, dann hinunter zur Kirche und der Kronen Wirtschaft zu.

Der alten Stigerin hat ihre Rechnung jämmerlich gefehlt. Hans kam erst recht ins Gerede hinein, als am anderen Tag, am Fest Allerheiligen, jedermann davon erzählte, Dorothee sei nun doch noch losgesprochen worden, weil sie den Dienst auf dem Stighofe verlassen hab' und bei der Kronenwirtin eingestanden sei.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 285-298.
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