Vierter Brief
Wilhelmine an Julie

[14] Wer bedarf des Lichts, wo es Tag ist? – Ich habe mir keine Mühe gegeben, Sinn in Deine Worte zu bringen. Für mich sind sie nicht dunkel. Auch begreife ich sehr wohl, daß Dir die Freude wie ein Schatten; aber nicht der Schmerz so erscheint.

Wollte der Himmel! ich begriffe eben so leicht, wie man sich berufen glauben kann, der ganzen Welt Schmerzen zu lindern, und[14] gegen seine eigenen die unmenschlichste Gleichgültigkeit zu behaupten.

Mag die Natur es verantworten, wenn sie ein Geschöpf dem Andern zum Opfer bestimmt. Aber das Opferthier darf sich wehren, es darf dem Verderben entfliehn. Auch in ihm regt sich der Trieb des Lebens, mahnet es zum Genuß und zur Erhaltung des Wohlseyns. Wer verspottet nun die Gesetze der Natur? wer wird dafür büßen? – –

Zwey Weiber können sich nicht alles seyn? – Schlimm genug? schlimm genug, daß die Geschöpfe welche den Weibern dieses sogenannte Alles seyn sollen, dieses Alles so elend repräsentiren.[15]

Im ausschließenden Besitze dessen, was den Geist erheben, ihn zur Selbstüberwindung, zur Tugend entflammen kann, glauben sie sich zu den ausschweifendsten Leidenschaften berechtigt. Nenne mir ein Laster, was sie nicht an uns abscheulich, und an sich erträglich fänden? Nenne mir eine Tugend, die sie nicht von uns foderten, um sie nach Wohlgefallen zu zerstören.

Und die Natur sollte mich strafen; wenn ich mich nicht vor einem dieser Sultane niederwürfe, überglücklich, daß er mir die Gnade erzeigte, seinen Fuß auf meinen Nacken zu setzen? –

Nein! nein! noch haben wir unsre fünf Sinne! und was die Natur auch versuchen[16] mag sie zu empören, sie sind der Fesseln gewohnt, und ohnehin, unter allen Umständen, zu einer ewigen Sclaverey verdammt.

Ich habe nichts zu gewinnen; aber ein unschätzbares Guth zu verlieren. Meine Freyheit. Welch ein großes, seelenerhebendes Wort! Wo gäbe es ein Glück ohne sie! wo gäbe es einen Schmerz, den sie nicht linderte. Wenn mich alles verläßt, dann wird mein Herz mir die Welt.[17]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 2, Posen und Leipzig 1802, S. 14-18.
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