Elftes Kapitel
Die Schlittenfahrt

[450] Schweigen war gelobt worden, und es blieb auch wirklich verschwiegen. Ein vielleicht einzig dastehender Fall. Wohl erzählte man sich in der Stadt, daß die Gensdarmes »etwas vorhätten« und mal wieder über einem jener tollen Streiche brüteten, um derentwillen sie vor andern Regimentern einen Ruf hatten, aber man erfuhr weder, worauf die Tollheit hinauslaufen werde, noch auch, für welchen Tag sie geplant sei. Selbst die Carayonschen Damen, an deren letztem Empfangsabende weder Schach noch Alvensleben erschienen waren, waren ohne Mitteilung geblieben, und so brach denn die berühmte »Sommerschlittenfahrt« über Näher- und Fernerstehende gleichmäßig überraschend herein.

In einem der in der Nähe der Mittel- und Dorotheenstraße gelegenen Stallgebäude hatte man sich bei Dunkelwerden versammelt, und ein Dutzend prachtvoll gekleideter und von Fackelträgern[450] begleiteter Vorreiter vorauf, ganz also, wie Zieten es proponiert hatte, schoß man mit dem Glockenschlage neun an dem Akademiegebäude vorüber auf die Linden zu, jagte weiter abwärts erst in die Wilhelms-, dann aber umkehrend in die Behren- und Charlottenstraße hinein und wiederholte diese Fahrt um das eben bezeichnete Lindencarré herum in einer immer gesteigerten Eile.

Als der Zug das erste Mal an dem Carayonschen Hause vorüberkam und das Licht der voraufreitenden Fackeln grell in alle Scheiben der Beletage fiel, eilte Frau von Carayon, die sich zufällig allein befand, erschreckt ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Aber statt des Rufes »Feuer«, den sie zu hören erwartete, hörte sie nur, wie mitten im Winter, ein Knallen großer Hetz- und Schlittenpeitschen mit Schellengeläut dazwischen, und ehe sie sich zurechtzufinden imstande war, war alles schon wieder vorüber und ließ sie verwirrt und fragend und in einer halben Betäubung zurück. In solchem Zustande war es, daß Victoire sie fand.

»Um Gottes willen, Mama, was ist?«

Aber ehe Frau von Carayon antworten konnte, war die Spitze der Maskerade zum zweiten Male heran, und Mutter und Tochter, die jetzt rasch und zu beßrer Orientierung von ihrem Eckzimmer aus auf den Balkon hinausgetreten waren, waren von diesem Augenblick an nicht länger mehr in Zweifel, was das Ganze bedeute. Verhöhnung, gleichviel auf wen und was. Erst unzüchtige Nonnen, mit einer Hexe von Äbtissin an der Spitze, johlend, trinkend und Karte spielend, und in der Mitte des Zuges ein auf Rollen laufender und in der Fülle seiner Vergoldung augenscheinlich als Triumphwagen gedachter Hauptschlitten, in dem Luther samt Famulus und auf der Pritsche Katharina von Bora saß. An der riesigen Gestalt erkannten sie Nostitz. Aber wer war der auf dem Vordersitz? fragte sich Victoire. Wer verbarg sich hinter dieser Luthermaske? War er es? Nein, es war unmöglich. Und doch, auch wenn er es nicht war, er war doch immer ein Mitschuldiger in diesem widerlichen Spiele, das er gutgeheißen oder wenigstens nicht gehindert hatte.[451]

Welche verkommne Welt, wie pietätlos, wie bar aller Schicklichkeit! Wie schal und ekel. Ein Gefühl unendlichen Wehs ergriff sie, das Schöne verzerrt und das Reine durch den Schlamm gezogen zu sehen. Und warum? Um einen Tag lang von sich reden zu machen, um einer kleinlichen Eitelkeit willen. Und das war die Sphäre, darin sie gedacht und gelacht, und gelebt und gewebt, und darin sie nach Liebe verlangt und ach, das Schlimmste von allem, an Liebe geglaubt hatte!

»Laß uns gehen«, sagte sie, während sie den Arm der Mutter nahm, und wandte sich, um in das Zimmer zurückzukehren. Aber ehe sie's erreichen konnte, wurde sie wie von einer Ohnmacht überrascht und sank auf der Schwelle des Balkons nieder.

Die Mama zog die Klingel, Beate kam, und beide trugen sie bis an das Sofa, wo sie gleich danach von einem heftigen Brustkrampfe befallen wurde. Sie schluchzte, richtete sich auf, sank wieder in die Kissen, und als die Mutter ihr Stirn und Schläfe mit Kölnischem Wasser waschen wollte, stieß sie sie heftig zurück. Aber im nächsten Augenblick riß sie der Mama das Flakon aus der Hand und goß es sich über Hals und Nacken. »Ich bin mir zuwider, zuwider wie die Welt. In meiner Krankheit damals hab ich Gott um mein Leben gebeten... Aber wir sollen nicht um unser Leben bitten... Gott weiß am besten, was uns frommt. Und wenn er uns zu sich hinaufziehen will, so sollen wir nicht bitten: laß uns noch... Oh, wie schmerzlich ich das fühle! Nun leb ich... Aber wie, wie!«

Frau von Carayon kniete neben dem Sofa nieder und sprach ihr zu. Denselben Augenblick aber schoß der Schlittenzug zum dritten Mal an dem Hause vorüber, und wieder war es, als ob sich schwarze, phantastische Gestalten in dem glühroten Scheine jagten und haschten. »Ist es nicht wie die Hölle?« sagte Victoire, während sie nach dem Schattenspiel an der Decke zeigte.

Frau von Carayon schickte Beaten, um den Arzt rufen zu lassen. In Wahrheit aber lag ihr weniger an dem Arzt als an einem Alleinsein und einer Aussprache mit dem geliebten Kinde.

»Was ist dir? Und wie du nur fliegst und zitterst. Und siehst[452] so starr. Ich erkenne meine heitre Victoire nicht mehr. Überlege, Kind, was ist denn geschehen? Ein toller Streich mehr, einer unter vielen, und ich weiß Zeiten, wo du diesen Übermut mehr belacht als beklagt hättest. Es ist etwas andres, was dich quält und drückt; ich seh es seit Tagen schon. Aber du verschweigst mir's, du hast ein Geheimnis. Ich beschwöre dich, Victoire, sprich. Du darfst es. Es sei, was es sei.«

Victoire schlug ihren Arm um Frau von Carayons Hals, und ein Strom von Tränen entquoll ihrem Auge.

»Beste Mutter!«

Und sie zog sie fester an sich und küßte sie und beichtete ihr alles.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 21973, S. 450-453.
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