25.

[113] Das ist's, was süßen Trost mir bringt

Und Jugendmut im Alter,

Daß mir, Natur, noch hell erklingt

Dein tausendstimmiger Psalter;


Daß heute noch die Seele mir

Vergeht in süßem Grausen,

Wenn mir zu Häupten im Revier

Die mächt'gen Wipfel brausen;


Daß, wie als Kind, ich jauchzen mag,

Am Dünenstrand zu sitzen,

Wenn über mich vom Wogenschlag

Des Gischtes Flocken spritzen;


Daß mich in dunklem Sehnsuchtsdrang

Die Berge ziehn, die blauen,

Daß mir beim Sonnenuntergang

Noch mag die Wimper tauen;


Daß stets, vom Frühlingssturm erfaßt,

Mein Herz noch schwärmt und dichtet,

Daß mir des Herbsttags goldne Rast

Noch stets die Brust beschwichtet.


Wieviel ich Täuschung auch erfuhr

Im Leben und im Lieben,

Du bist mir allezeit, Natur,

Du bist mir treu geblieben.


Du hast, wenn Unmut mich befiel,

Ihn sanft hinweggehoben,

Hast mir dein leuchtend Farbenspiel

In jede Lust gewoben;


Und wollt' ich ganz im Schmerz vergehn,

So zeigtest du mir milde

Von Leben, Tod und Auferstehn

Den Kreis im Spiegelbilde.[114]


O laß mich still an deiner Hand

Fortwallen, Heiliggroße,

Bis ich vom Schlummer übermannt

Mag ruhn in deinem Schoße!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 113-115.
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