Achtes Kapitel

[244] Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von seiten des flachen Landes her in die pädagogische Provinz hineintritt. Er kommt über Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See, erblickt mehr bebuschte als waldige Hügel, überall freie Umsicht über einen wenig bewegten Boden. Auf solchen Pfaden blieb ihm nicht lange zweifelhaft, er befinde sich in der pferdenährenden Region, auch gewahrte er hie und da kleinere und größere Herden dieses edlen Tiers, verschiedenen Geschlechts und Alters. Auf einmal aber bedeckt sich der Horizont mit einer furchtbaren Staubwolke, die, eiligst näher und näher anschwellend, alle Breite des Raums völlig überdeckt, endlich aber, durch frischen Seitenwind enthüllt, ihren innern Tumult zu offenbaren genötigt ist.[244]

In vollem Galopp stürzt eine große Masse solcher edlen Tiere heran, sie werden durch reitende Hüter gelenkt und zusammengehalten. An dem Wanderer sprengt das ungeheure Gewimmel vorbei, ein schöner Knabe unter den begleitenden Hütern blickt ihn verwundert an, pariert, springt ab und umarmt den Vater.

Nun geht es an ein Fragen und Erzählen; der Sohn berichtet, daß er in der ersten Prüfungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermißt und auf Äckern und Wiesen sich zu Fuß herumgetrieben; da er sich denn auch in dem stillen, mühseligen Landleben, wie er voraus protestiert, nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das Bestellen hinterdrein, Pflügen, Graben und Abwarten keineswegs gefallen, mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich zwar, doch immer lässig und unzufrieden beschäftigt, bis er denn zur lebhafteren Reiterei endlich befördert worden. Das Geschäft, die Stuten und Fohlen zu hüten, sei mitunter zwar langweilig genug, indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen vielleicht in drei, vier Jahren lustig davontrüge, so sei es doch ein ganz anderes Wesen, als sich mit Kälbern und Ferkeln abzugeben, deren Lebenszweck dahinaus gehe, wohl gefüttert und angefettet fortgeschafft zu werden.

Mit dem Wachstum des Knaben, der sich wirklich zum Jüngling heranstreckte, seiner gesunden Haltung, einem gewissen frei-heitern, um nicht zu sagen geistreichen Gespräche konnte der Vater wohl zufrieden sein. Beide folgten reitend nunmehr eilig der eilenden Herde, bei einsam gelegenen weitläufigen Gehöften vorüber, zu dem Ort oder Flecken, wo das große Marktfest gehalten ward. Dort wühlt ein unglaubliches Getümmel durcheinander, und man wüßte nicht zu unterscheiden, ob Ware oder Käufer mehr Staub erregten. Aus allen Landen treffen hier Kauflustige zusammen, um Geschöpfe edler Abkunft, sorgfältiger Zucht sich zuzueignen. Alle Sprachen der Welt glaubt man zu hören. Dazwischen tönt auch der lebhafte Schall wirksamster Blasinstrumente, und alles deutet auf Bewegung, Kraft und Leben.

Unser Wanderer trifft nun den vorigen, schon bekannten Aufseher wieder an, gesellt zu andern tüchtigen Männern,[245] welche still und gleichsam unbemerkt Zucht und Ordnung zu erhalten wissen. Wilhelm, der hier abermals ein Beispiel ausschließlicher Beschäftigung und, wie ihm bei aller Breite scheint, beschränkter Lebensleitung zu bemerken glaubt, wünscht zu erfahren, worin man die Zöglinge sonst noch zu üben pflege, um zu verhindern, daß bei so wilder, gewissermaßen roher Beschäftigung, Tiere nährend und erziehend, der Jüngling nicht selbst zum Tiere verwildere. Und so war ihm denn sehr lieb zu vernehmen, daß gerade mit dieser gewaltsam und rauh scheinenden Bestimmung die zarteste von der Welt verknüpft sei: Sprachübung und Sprachbildung.

In dem Augenblick vermißte der Vater den Sohn an seiner Seite, er sah ihn zwischen den Lücken der Menge durch mit einem jungen Tabulettkrämer über Kleinigkeiten eifrig handeln und feilschen. In kurzer Zeit sah er ihn gar nicht mehr. Als nun der Aufseher nach der Ursache einer gewissen Verlegenheit und Zerstreuung fragte und dagegen vernahm, daß es den Sohn gelte: »Lassen Sie es nur«, sagte er zur Beruhigung des Vaters, »er ist unverloren; damit Sie aber sehen, wie wir die Unsrigen zusammenhalten«, stieß er mit Gewalt in ein Pfeifchen, das an seinem Busen hing, in dem Augenblick antwortete es dutzendweise von allen Seiten. Der Mann fuhr fort: »Jetzt lass' ich es dabei bewenden, es ist nur ein Zeichen, daß der Aufseher in der Nähe ist und ungefähr wissen will, wie viel ihn hören. Auf ein zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte antworten sie und stürzen herbei. Übrigens sind diese Zeichen auf gar mannigfaltige Weise vervielfältigt und von besonderem Nutzen.«

Auf einmal hatte sich um sie her ein freierer Raum gebildet, man konnte freier sprechen, indem man gegen die benachbarten Höhen spazierte. »Zu jenen Sprachübungen«, fuhr der Aufsehende fort, »wurden wir dadurch bestimmt, daß aus allen Weltgegenden Jünglinge sich hier befinden. Um nun zu verhüten, daß sich nicht, wie in der Fremde zu geschehen pflegt, die Landsleute vereinigen und, von den übrigen Nationen abgesondert, Parteien bilden, so suchen wir durch freie Sprachmitteilung sie einander zu nähern.[246]

Am notwendigsten aber wird eine allgemeine Sprachübung, weil bei diesem Festmarkte jeder Fremde in seinen eigenen Tönen und Ausdrücken genugsame Unterhaltung, beim Feilschen und Markten aber alle Bequemlichkeit gerne finden mag. Damit jedoch keine babylonische Verwirrung, keine Verderbnis entstehe, so wird das Jahr über monatweise nur eine Sprache im allgemeinen gesprochen, nach dem Grundsatz, daß man nichts lerne außerhalb des Elements, welches bezwungen werden soll.

Wir sehen unsere Schüler«, sagte der Aufseher, »sämtlich als Schwimmer an, welche mit Verwunderung im Elemente, das sie zu verschlingen droht, sich leichter fühlen, von ihm gehoben und getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch unterfängt.

Zeigt jedoch einer der Unsrigen zu dieser oder jener Sprache besondere Neigung, so ist auch mitten in diesem tumultvoll scheinenden Leben, das zugleich sehr viel ruhige, müßig-einsame, ja langweilige Stunden bietet, für treuen und gründlichen Unterricht gesorgt. Ihr würdet unsere reitenden Grammatiker, unter welchen sogar einige Pedanten sind, aus diesen bärtigen und unbärtigen Centauren wohl schwerlich herausfinden. Euer Felix hat sich zum Italienischen bestimmt, und da, wie Ihr schon wißt, melodischer Gesang bei unsern Anstalten durch alles durchgreift, so solltet Ihr ihn in der Langweile des Hüterlebens gar manches Lied zierlich und gefühlvoll vortragen hören. Lebenstätigkeit und Tüchtigkeit ist mit auslangendem Unterricht weit verträglicher, als man denkt.«

Da eine jede Region ihr eigenes Fest feiert, so führte man den Gast zum Bezirk der Instrumentalmusik. Dieser, an die Ebene grenzend, zeigte schon freundlich und zierlich abwechselnde Täler, kleine schlanke Wälder, sanfte Bäche, an deren Seite hie und da ein bemooster Fels hervortrat. Zerstreute, umbuschte Wohnungen erblickte man auf den Hügeln, in sanften Gründen drängten sich die Häuser näher aneinander. Jene anmutig vereinzelten Hütten lagen so weit auseinander, daß weder Töne noch Mißtöne sich wechselseitig erreichen konnten.

Sie näherten sich sodann einem weiten, rings umbauten[247] und umschatteten Raume, wo Mann an Mann gedrängt mit großer Aufmerksamkeit und Erwartung gespannt schienen. Eben als der Gast herantrat, ward eine mächtige Symphonie aller Instrumente aufgeführt, deren vollständige Kraft und Zartheit er bewundern mußte. Dem geräumig erbauten Orchester gegenüber stand ein kleineres, welches zu besonderer Betrachtung Anlaß gab; auf demselben befanden sich jüngere und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht wagten, mit ins Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man, wie sie gleichsam auf dem Sprunge standen, und hörte rühmen: ein solches Fest gehe selten vorüber, ohne daß ein oder das andere Talent sich plötzlich entwickele.

Da nun auch Gesang zwischen den Instrumenten sich hervortat, konnte kein Zweifel übrigbleiben, daß auch dieser begünstigt werde. Auf eine Frage sodann, was noch sonst für eine Bildung sich hier freundlich anschließe, vernahm der Wanderer: die Dichtkunst sei es, und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, daß beide Künste, jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen- und miteinander entwickelt werden. Die Schüler lernen eine wie die andre in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich wechselsweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien.

Der poetischen Rhythmik stellt der Tonkünstler Takteinteilung und Taktbewegung entgegen. Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der Musik über die Poesie; denn wenn diese, wie billig und notwendig, ihre Quantitäten immer so rein als möglich im Sinne hat, so sind für den Musiker wenig Silben entschieden lang oder kurz; nach Belieben zerstört dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten Möglichkeiten hervortreten, und der Poet würde sich gar bald vernichtet fühlen, wüßte er nicht von seiner Seite durch lyrische Zartheit und Kühnheit dem Musiker Ehrfurcht einzuflößen und neue Gefühle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten Übergänge, hervorzurufen.[248]

Die Sänger, die man hier findet, sind meist selbst Poeten. Auch der Tanz wird in seinen Grundzügen gelehrt, damit sich alle diese Fertigkeiten über sämtliche Regionen regelmäßig verbreiten können.

Als man den Gast über die nächste Grenze führte, sah er auf einmal eine ganz andere Bauart. Nicht mehr zerstreut waren die Häuser, nicht mehr hüttenartig; sie zeigten sich vielmehr regelmäßig zusammengestellt, prächtig und schön von außen, geräumig, bequem und zierlich von innen; man ward hier einer unbeengten, wohlgebauten, der Gegend angemessenen Stadt gewahr. Hier sind bildende Kunst und die ihr verwandten Handwerke zu Hause, und eine ganz eigene Stille herrscht über diesen Räumen.

Der bildende Künstler denkt sich zwar immer in Bezug auf alles, was unter den Menschen lebt und webt, aber sein Geschäft ist einsam, und durch den sonderbarsten Widerspruch verlangt vielleicht kein anderes so entschieden lebendige Umgebung. Hier nun bildet jeder im stillen, was bald für immer die Augen der Menschen beschäftigen soll; eine Feiertagsruhe waltet über dem ganzen Ort, und hätte man nicht hie und da das Picken der Steinhauer oder abgemessene Schläge der Zimmerleute vernommen, die soeben emsig beschäftigt waren, ein herrliches Gebäude zu vollenden, so wäre die Luft von keinem Ton bewegt gewesen.

Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit welcher sowohl Anfänger als Fortschreitende behandelt wurden; es schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen großen Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als sich der Wanderer von dem Führer eine Erklärung des ganzen Verfahrens erbat, äußerte dieser: die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstätes Vermögen, während das ganze Verdienst des bildenden Künstlers darin bestehe, daß er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja endlich bis zur Gegenwart erhöhen lerne.

Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in andern Künsten. »Würde der Musiker einem Schüler[249] vergönnen, wild auf den Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element, worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das Unmögliche möglich wird.

Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: daß gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit, zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird.

Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun, denn dieses wird eben von dem guten Geiste beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, daß Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte: denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche für das Beste zu halten; und gereicht es nicht überall zum Glück?

Zur großen Erleichterung für die Lehrer sind auch hier, wie überall bei uns, die drei Ehrfurchten und ihre Zeichen mit einiger Abänderung, der Natur des obwaltenden Geschäfts gemäß, eingeführt und eingeprägt.«

Den ferner umhergeleiteten Wanderer mußte nunmehr in Verwunderung setzen, daß die Stadt sich immer zu erweitern, Straße aus Straße sich zu entwickeln schien, mannigfaltige Ansichten gewährend. Das Äußere der Gebäude[250] sprach ihre Bestimmung unzweideutig aus, sie waren würdig und stattlich, weniger prächtig als schön. Den edlern und ernsteren in Mitte der Stadt schlossen sich die heitern gefällig an, bis zuletzt zierliche Vorstädte anmutigen Stils gegen das Feld sich hinzogen und endlich als Gartenwohnungen zerstreuten.

Der Wanderer konnte nicht unterlassen, hier zu bemerken, daß die Wohnungen der Musiker in der vorigen Region keineswegs an Schönheit und Raum den gegenwärtigen zu vergleichen seien, welche Maler, Bildhauer und Baumeister bewohnen. Man erwiderte ihm, dies liege in der Natur der Sache. Der Musikus müsse immer in sich selbst gekehrt sein, sein Innerstes ausbilden, um es nach außen zu wenden. »Dem Sinne des Auges hat er nicht zu schmeicheln. Das Auge bevorteilt gar leicht das Ohr und lockt den Geist von innen nach außen. Umgekehrt muß der bildende Künstler in der Außenwelt leben und sein Inneres gleichsam unbewußt an und in dem Auswendigen manifestieren. Bildende Künstler müssen wohnen wie Könige und Götter, wie wollten sie denn sonst für Könige und Götter bauen und verzieren? Sie müssen sich zuletzt dergestalt über das Gemeine erheben, daß die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werken sich veredelt fühle.«

Sodann ließ unser Freund sich ein anderes Paradoxon erklären: warum gerade in diesen festlichen, andere Regionen so belebenden, tumultuarisch erregten Tagen hier die größte Stille herrsche und das Arbeiten nicht auch ausgesetzt werde?

»Ein bildender Künstler«, hieß es, »bedarf keines Festes, ihm ist das ganze Jahr ein Fest. Wenn er etwas Treffliches geleistet hat, es steht nach wie vor seinem Aug' entgegen, dem Auge der ganzen Welt. Da bedarf es keiner Wiederholung, keiner neuen Anstrengung, keines frischen Gelingens, woran sich der Musiker immerfort abplagt, dem daher das splendideste Fest innerhalb des vollzähligsten Kreises zu gönnen ist.«

»Man sollte aber doch«, versetzte Wilhelm, »in diesen Tagen eine Ausstellung belieben, wo die dreijährigen Fortschritte der bravesten Zöglinge mit Vergnügen zu beschauen und zu beurteilen wären.«[251]

»An anderen Orten«, versetzte man, »mag eine Ausstellung sich nötig machen, bei uns ist sie es nicht. Unser ganzes Wesen und Sein ist Ausstellung. Sehen Sie hier die Gebäude aller Art, alle von Zöglingen aufgeführt; freilich nach hundertmal besprochenen und durchdachten Rissen: denn der Bauende soll nicht herumtasten und versuchen; was stehenbleiben soll, muß recht stehen und, wo nicht für die Ewigkeit, doch für geraume Zeit genügen. Mag man doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine.

Mit Bildhauern verfahren wir schon läßlicher, am läßlichsten mit Malern, sie dürfen dies und jenes versuchen, beide in ihrer Art. Ihnen steht frei, in den innern, an den äußern Räumen der Gebäude, auf Plätzen sich eine Stelle zu wählen, die sie verzieren wollen. Sie machen ihren Gedanken kund, und wenn er einigermaßen zu billigen ist, so wird die Ausführung zugestanden, und zwar auf zweierlei Weise, entweder mit Vergünstigung, früher oder später die Arbeit wegnehmen zu dürfen, wenn sie dem Künstler selbst mißfiele, oder mit Bedingung, das einmal Aufgestellte unabänderlich am Orte zu lassen. Die meisten erwählen das erste und behalten sich jene Erlaubnis vor, wobei sie immer am besten beraten sind. Der zweite Fall tritt seltner ein, und man bemerkt, daß alsdann die Künstler sich weniger vertrauen, mit Gesellen und Kennern lange Konferenzen halten und dadurch wirklich schätzenswerte dauerwürdige Arbeiten hervorzubringen wissen.«

Nach allem diesem versäumte Wilhelm nicht, sich zu erkundigen, was für ein anderer Unterricht sich sonst noch anschließe, und man gestand ihm, daß es die Dichtkunst, und zwar die epische sei.

Doch mußte dem Freunde dies sonderbar scheinen, als man hinzufügte: es werde den Schülern nicht vergönnt, schon ausgearbeitete Gedichte älterer und neuerer Dichter zu lesen oder vorzutragen; ihnen wird nur eine Reihe von Mythen, Überlieferungen und Legenden lakonisch mitgeteilt. Nun erkennt man gar bald an malerischer oder poetischer Ausführung das eigene Produktive des einer oder der andern Kunst gewidmeten Talents. Dichter und Bildner, beide beschäftigen sich an einer Quelle, und jeder sucht[252] das Wasser nach seiner Seite, zu seinem Vorteil hinzulenken, um nach Erfordernis eigne Zwecke zu erreichen; welches ihm viel besser gelingt, als wenn er das schon Verarbeitete nochmals umarbeiten wollte.

Der Reisende selbst hatte Gelegenheit, zu sehen, wie das vorging. Mehrere Maler waren in einem Zimmer beschäftigt, ein munterer junger Freund erzählte sehr ausführlich eine ganz einfache Geschichte, so daß er fast ebenso viele Worte als jene Pinselstriche anwendete, seinen Vortrag ebenfalls aufs rundeste zu vollenden.

Man versicherte, daß beim Zusammenarbeiten die Freunde sich gar anmutig unterhielten und daß sich auf diesem Wege öfters Improvisatoren entwickelten, welche großen Enthusiasmus für die zwiefache Darstellung zu erregen wüßten.

Der Freund wendete nun seine Erkundigungen zur bildenden Kunst zurück. »Ihr habt«, so sprach er, »keine Ausstellung, also auch wohl keine Preisaufgabe?« »Eigentlich nicht«, versetzte jener, »hier aber ganz in der Nähe können wir Euch sehen lassen, was wir für nützlicher halten.«

Sie traten in einen großen, von oben glücklich erleuchteten Saal; ein weiter Kreis beschäftigter Künstler zeigte sich zuerst, aus dessen Mitte sich eine kolossale Gruppe günstig aufgestellt erhob. Männliche und weibliche Kraftgestalten in gewaltsamen Stellungen erinnerten an jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenjünglingen und Amazonen, wo Haß und Feindseligkeit zuletzt sich in wechselseitig-traulichen Beistand auflöst. Dieses merkwürdig verschlungene Kunstwerk war von jedem Punkte ringsum gleich günstig anzusehen. In einem weiten Umfang saßen und standen bildende Künstler, jeder nach seiner Weise beschäftigt: der Maler an seiner Staffelei, der Zeichner am Reißbrett; einige modellierten rund, einige flach erhoben; ja sogar Baumeister entwarfen den Untersatz, worauf künftig ein solches Kunstwerk gestellt werden sollte. Jeder Teilnehmende verfuhr nach seiner Weise bei der Nachbildung, Maler und Zeichner entwickelten die Gruppe zur Fläche, sorgfältig je doch, sie nicht zu zerstören, sondern so viel wie möglich beizubehalten. Ebenso wurden die flacherhobenen[253] Arbeiten behandelt. Nur ein einziger hatte die ganze Gruppe in kleinerem Maßstabe wiederholt, und er schien das Modell wirklich in gewissen Bewegungen und Gliederbezug übertroffen zu haben.

Nun offenbarte sich, dies sei der Meister des Modells, der dasselbe vor der Ausführung in Marmor hier einer nicht beurteilenden, sondern praktischen Prüfung unterwarf und so alles, was jeder seiner Mitarbeiter nach eigner Weise und Denkart daran gesehen, beibehalten oder verändert, genau beobachtend bei nochmaligem Durchdenken zu eignem Vorteil anzuwenden wußte; dergestalt, daß zuletzt, wenn das hohe Werk in Marmor gearbeitet dastehen wird, obgleich nur von einem unternommen, angelegt und ausgeführt, doch allen anzugehören scheinen möge.

Die größte Stille beherrschte auch diesen Raum, aber der Vorsteher erhob seine Stimme und rief: »Wer wäre denn hier, der uns in Gegenwart dieses stationären Werkes mit trefflichen Worten die Einbildungskraft dergestalt erregte, daß alles, was wir hier fixiert sehen, wieder flüssig würde, ohne seinen Charakter zu verlieren, damit wir uns überzeugen, das, was der Künstler hier festgehalten, sei auch das Würdigste?«

Namentlich aufgefordert von allen, verließ ein schöner Jüngling seine Arbeit und begann heraustretend einen ruhigen Vortrag, worin er das gegenwärtige Kunstwerk nur zu beschreiben schien, bald aber warf er sich in die eigentliche Region der Dichtkunst, tauchte sich in die Mitte der Handlung und beherrschte dies Element zur Bewunderung; nach und nach steigerte sich seine Darstellung durch herrliche Deklamation auf einen solchen Grad, daß wirklich die starre Gruppe sich um ihre Achse zu bewegen und die Zahl der Figuren daran verdoppelt und verdreifacht schien. Wilhelm stand entzückt und rief zuletzt: »Wer will sich hier noch enthalten, zum eigentlichen Gesang und zum rhythmischen Lied überzugehen!«

»Dies möcht' ich verbitten«, versetzte der Aufseher; »denn wenn unser trefflicher Bildhauer aufrichtig sein will, so wird er bekennen, daß ihm unser Dichter eben darum beschwerlich gefallen, weil beide Künstler am weitesten[254] auseinander stehen; dagegen wollt' ich wetten, ein und der andere Maler hat sich gewisse lebendige Züge daraus angeeignet.

Ein sanftes, gemütliches Lied jedoch möcht' ich unserm Freunde zu hören geben, eines, das ihr so ernst-lieblich vortragt; es bewegt sich über das Ganze der Kunst und ist mir selbst, wenn ich es höre, stets erbaulich.«

Nach einer Pause, in der sie einander zuwinkten und sich durch Zeichen beredeten, erscholl von allen Seiten nach folgender Herz und Geist erhebende, würdige Gesang:


»Zu erfinden, zu beschließen,

Bleibe, Künstler, oft allein;

Deines Wirkens zu genießen,

Eile freudig zum Verein!

Hier im Ganzen schau', erfahre

Deinen eignen Lebenslauf,

Und die Taten mancher Jahre

Gehn dir in dem Nachbar auf.


Der Gedanke, das Entwerfen,

Die Gestalten, ihr Bezug,

Eines wird das andre schärfen,

Und am Ende sei's genug!

Wohl erfunden, klug ersonnen,

Schön gebildet, zart vollbracht –

So von jeher hat gewonnen

Künstler kunstreich seine Macht.


Wie Natur im Vielgebilde

Einen Gott nur offenbart,

So im weiten Kunstgefilde

Webt ein Sinn der ew'gen Art;

Dieses ist der Sinn der Wahrheit,

Der sich nur mit Schönem schmückt

Und getrost der höchsten Klarheit

Hellsten Tags entgegenblickt.


Wie beherzt in Reim und Prose

Redner, Dichter sich ergehn,

Soll des Lebens heitre Rose

Frisch auf Malertafel stehn,[255]

Mit Geschwistern reich umgeben,

Mit des Herbstes Frucht umlegt,

Daß sie von geheimem Leben

Offenbaren Sinn erregt.


Tausendfach und schön entfließe

Form aus Formen deiner Hand,

Und im Menschenbild genieße,

Daß ein Gott sich hergewandt.

Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet

Stellet euch als Brüder dar;

Und gesangweis flammt und rauchet

Opfersäule vom Altar.«


Alles dieses mochte Wilhelm gar wohl gelten lassen, ob es ihm gleich sehr paradox und, hätte er es nicht mit Augen gesehen, gar unmöglich scheinen mußte. Da man es ihm nun aber offen und frei, in schöner Folge vorwies und bekannt machte, so bedurfte es kaum einer Frage, um das Weitere zu erfahren; doch enthielt er sich nicht, den Führenden zuletzt folgendermaßen anzureden: »Ich sehe, hier ist gar klüglich für alles gesorgt, was im Leben wünschenswert sein mag; entdeckt mir aber auch: welche Region kann eine gleiche Sorgfalt für dramatische Poesie aufweisen, und wo könnte ich mich darüber belehren? Ich sah mich unter allen euren Gebäuden um und finde keines, das zu einem solchen Zweck bestimmt sein könnte.«

»Verhehlen dürfen wir nicht auf diese Anfrage, daß in unserer ganzen Provinz dergleichen nicht anzutreffen sei: denn das Drama setzt eine müßige Menge, vielleicht gar einen Pöbel voraus, dergleichen sich bei uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst sich unwillig entfernt, über die Grenze gebracht. Seid jedoch gewiß, daß bei unserer allgemein wirkenden Anstalt auch ein so wichtiger Punkt wohl überlegt worden; keine Region aber wollte sich finden, überall trat ein bedeutendes Bedenken ein. Wer unter unsern Zöglingen sollte sich leicht entschließen, mit erlogener Heiterkeit oder geheucheltem Schmerz ein unwahres, dem Augenblick nicht angehöriges Gefühl in der Maße zu erregen, um dadurch ein immer mißliches[256] Gefallen abwechselnd hervorzubringen? Solche Gaukeleien fanden wir durchaus gefährlich und konnten sie mit unserm ernsten Zweck nicht vereinen.«

»Man sagt aber doch«, versetzte Wilhelm, »diese weit um sich greifende Kunst befördere die übrigen sämtlich.«

»Keineswegs«, erwiderte man, »sie bedient sich der übrigen, aber verdirbt sie. Ich verdenke dem Schauspieler nicht, wenn er sich zu dem Maler gesellt; der Maler jedoch ist in solcher Gesellschaft verloren.

Gewissenlos wird der Schauspieler, was ihm Kunst und Leben darbietet, zu seinen flüchtigen Zwecken verbrauchen und mit nicht geringem Gewinn; der Maler hingegen, der vom Theater auch wieder seinen Vorteil ziehen möchte, wird sich immer im Nachteil finden und der Musikus im gleichen Falle sein. Die sämtlichen Künste kommen mir vor wie Geschwister, deren die meisten zu guter Wirtschaft geneigt wären, eins aber, leicht gesinnt, Hab und Gut der ganzen Familie sich zuzueignen und zu verzehren Lust hätte. Das Theater ist in diesem Falle, es hat einen zweideutigen Ursprung, den es nie ganz, weder als Kunst noch Handwerk, noch als Liebhaberei verleugnen kann.«

Wilhelm sah mit einem tiefen Seufzer vor sich nieder, denn alles auf einmal vergegenwärtigte sich ihm, was er auf und an den Brettern genossen und gelitten hatte; er segnete die frommen Männer, welche ihren Zöglingen solche Pein zu ersparen gewußt und aus Überzeugung und Grundsatz jene Gefahren aus ihrem Kreise gebannt.

Sein Begleiter jedoch ließ ihn nicht lange in diesen Betrachtungen, sondern fuhr fort: »Da es unser höchster und heiligster Grundsatz ist, keine Anlage, kein Talent zu mißleiten, so dürfen wir uns nicht verbergen, daß unter so großer Anzahl sich eine mimische Naturgabe auch wohl entschieden hervortue; diese zeigt sich aber in unwiderstehlicher Lust des Nachäffens fremder Charaktere, Gestalten, Bewegung, Sprache. Dies fördern wir zwar nicht, beobachten aber den Zögling genau, und bleibt er seiner Natur durchaus getreu, so haben wir uns mit großen Theatern aller Nationen in Verbindung gesetzt und senden einen bewährt Fähigen sogleich dorthin, damit er, wie die Ente auf[257] dem Teiche, so auf den Brettern seinem künftigen Lebensgewackel und -geschnatter eiligst entgegengeleitet werde.«

Wilhelm hörte dies mit Geduld, doch nur mit halber Überzeugung, vielleicht mit einigem Verdruß: denn so wunderlich ist der Mensch gesinnt, daß er von dem Unwert irgendeines geliebten Gegenstandes zwar überzeugt sein, sich von ihm abwenden, sogar ihn verwünschen kann, aber ihn doch nicht von andern auf gleiche Weise behandelt wissen will; und vielleicht regt sich der Geist des Widerspruchs, der in allen Menschen wohnt, nie lebendiger und wirksamer als in solchem Falle.

Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt. Hat er nicht auch in vielfachem Sinn mehr Leben und Kräfte als billig dem Theater zugewendet? und könnte man ihn wohl überzeugen, daß dies ein unverzeihlicher Irrtum, eine fruchtlose Bemühung gewesen?

Doch wir finden keine Zeit, solchen Erinnerungen und Nachgefühlen unwillig uns hinzugeben, denn unser Freund sieht sich angenehm überrascht, da ihm abermals einer von den Dreien, und zwar ein besonders zusagender, vor die Augen tritt. Entgegenkommende Sanftmut, den reinsten Seelenfrieden verkündend, teilte sich höchst erquicklich mit. Vertrauend konnte der Wanderer sich nähern und fühlte sein Vertrauen erwidert.

Hier vernahm er nun, daß der Obere sich gegenwärtig bei den Heiligtümern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die Dreie sich verteilt, um sämtliche Regionen heimzusuchen und überall, nach genommener tiefster Kenntnis und Verabredung mit den untergeordneten Aufsehern, das Eingeführte weiterzuleiten, das Neubestimmte zu gründen und dadurch ihre hohe Pflicht treulich zu erfüllen.

Eben dieser treffliche Mann gab ihm nun eine allgemeinere Übersicht ihrer innern Zustände und äußern Verbindungen sowie Kenntnis von der Wechselwirkung aller verschiedenen Regionen; nicht weniger ward klar, wie aus[258] einer in die andere, nach längerer oder kürzerer Zeit, ein Zögling versetzt werden könne. Genug, mit dem bisher Vernommenen stimmte alles völlig überein. Zugleich machte die Schilderung seines Sohnes ihm viel Vergnügen, und der Plan, wie man ihn weiterführen wollte, mußte seinen ganzen Beifall gewinnen.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 8, Hamburg 1948 ff, S. 244-259.
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