Zweites Kapitel

[427] Der Knabe lud Wilhelmen zum Frühstück ein; dieser fand den Abbé schon im Saale; Lothario, hieß es, sei ausgeritten; der Abbé war nicht sehr gesprächig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und hörte mit Teilnahme der Erzählung Wilhelms zu. »Ach!« rief er aus, »wem es lebhaft und gegenwärtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen müssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als möglich an der Bildung seiner Mitbürger teilnimmt, der möchte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerstört und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld zerstört zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zufällige Gabe, daß ich jeden loben möchte, der sie nicht höher als billig schätzt.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Türe mit Heftigkeit sich aufriß, ein junges Frauenzimmer hereinstürzte und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zurückstieß. Sie eilte gerade auf den Abbé zu und konnte, indem sie ihn beim Arm faßte, vor Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: »Wo ist er? Wo habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verräterei! Gesteht nur! Ich weiß, was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist.«

»Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte der Abbé mit angenommener Gelassenheit, »kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur müssen Sie hören können, wenn ich Ihnen erzählen soll.« Er bot ihr die Hand an, im Sinne, sie wegzuführen. »Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen«, rief sie aus, »ich hasse die Wände, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangenhaltet! und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke – es war mir etlichemal, als hörte ich schießen. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich fülle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrei.«

Sie eilte unter den heftigsten Tränen nach dem Fenster,[427] der Abbé hielt sie zurück und suchte vergebens, sie zu besänftigen.

Man hörte einen Wagen fahren, sie riß das Fenster auf: »Er ist tot!« rief sie, »da bringen sie ihn.« – »Er steigt aus!« sagte der Abbé. »Sie sehen, er lebt.« – »Er ist verwundet«, versetzte sie heftig, »sonst käm' er zu Pferde! Sie führen ihn! Er ist gefährlich verwundet!« Sie rannte zur Türe hinaus und die Treppe hinunter, der Abbé eilte ihr nach, und Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die Schöne ihrem heraufkommenden Geliebten begegnete.

Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich für seinen alten Gönner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auf sie stützte, kam er die Treppe langsam herauf; er grüßte Wilhelmen und ward in sein Kabinett geführt.

Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen. »Sie sind, wie es scheint«, sagte er, »prädestiniert, überall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist.«

»Ich freue mich«, versetzte Wilhelm, »Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaßt. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?« – »Ich glaube nicht«, versetzte Jarno.

Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. »Nun, was sagen Sie?« rief ihm Jarno entgegen. – »Daß es sehr gefährlich steht«, versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen.

Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren, zeichneten dieses Band vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm war überzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen.[428]

»Wo haben Sie die Tasche her?« rief er aus. »Wem gehörte sie vor Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir's.« – »Ich habe sie in einer Auktion gekauft«, versetzte jener, »was kümmert's mich, wem sie gehörte?« Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: »Wenn diesem jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge!« – »So hat er also diese Tasche nicht erstanden?« versetzte Wilhelm. »So wenig, als es Gefahr mit Lothario hat«, antwortete Jarno.

Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei? Wilhelm erzählte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: »Es ist doch sonderbar, sehr sonderbar!«

Der Abbé trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: »Der Baron läßt Sie ersuchen, hier zu bleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Unterhaltung unter diesen Umständen beizutragen. Haben Sie nötig, etwas an die Ihrigen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich besorgt werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, muß ich Ihnen erzählen, was eigentlich kein Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft genießen wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die nämliche Unterhaltung, er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gemütsart war es ihr unmöglich, ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es einen öffentlichen Bruch, sie glaubte sich äußerst beleidigt und wünschte gerächt zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen hätte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich höre, noch schlimmer dabei gefahren.«

Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehöre er zur Familie, behandelt.[429]

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, Hamburg 1948 ff, S. 427-430.
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