Vierten Bandes zweites Heft

[500] (1823)


Eigenes und Angeeignetes


Der Irrtum ist viel leichter zu erkennen, als die Wahrheit zu finden; jener liegt auf der Oberfläche, damit läßt sich wohl fertig werden; diese ruht in der Tiefe, danach zu forschen ist nicht jedermanns Sache.


Wir alle leben vom Vergangnen und gehen am Vergangenen zugrunde.


Wie wir was Großes lernen sollen, flüchten wir uns gleich in unsre angeborne Armseligkeit und haben doch immer etwas gelernt.


Den Deutschen ist nichts daran gelegen, zusammenzubleiben, aber doch, für sich zu bleiben. Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so ein eignes Für-sich, das er sich nicht gern möchte nehmen lassen.


Die empirisch-sittliche Welt besteht größtenteils nur aus bösem Willen und Neid.


Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deswegen schadet's dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein.
[500]

Mit dem Vertrauen ist es eine wunderliche Sache. Hört man nur einen: der kann sich irren oder sich betrügen; hört man viele: die sind in demselbigen Falle, und gewöhnlich findet man da die Wahrheit gar nicht heraus.


Unreine Lebensverhältnisse soll man niemand wünschen; sie sind aber für den, der zufällig hineingerät, Prüfsteine des Charakters und des Entschiedensten, was der Mensch vermag.


Ein beschränkter, ehrlicher Mensch sieht oft die Schelmerei der feinsten Mächler (faiseurs) durch und durch.


Wer keine Liebe fühlt, muß schmeicheln lernen, sonst kommt er nicht aus.


Gegen die Kritik kann man sich weder schützen noch wehren; man muß ihr zum Trutz handeln, und das läßt sie sich nach und nach gefallen.


Die Menge kann tüchtige Menschen nicht entbehren, und die Tüchtigen sind ihnen jederzeit zur Last.


Wer meine Fehler überträgt, ist mein Herr, und wenn's mein Diener wäre.


Memoiren von oben herunter oder von unten hinauf: sie müssen sich immer begegnen.


Wenn man von den Leuten Pflichten fordert und ihnen keine Rechte zugestehen will, muß man sie gut bezahlen.


Das sogenannte Romantische einer Gegend ist ein stilles Gefühl des Erhabenen unter der Form der Vergangenheit oder, was gleich lautet, der Einsamkeit, Abwesenheit, Abgeschiedenheit.
[501]

Der herrliche Kirchengesang »Veni Creator Spiritus« ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht.


Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.


Aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch zu sein aber nicht.


Der Undank ist immer eine Art Schwäche. Ich habe nie gesehen, daß tüchtige Menschen wären undankbar gewesen.


Wir alle sind so borniert, daß wir immer glauben, recht zu haben; und so läßt sich ein außerordentlicher Geist denken, der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrtum hat.


Reine mittlere Wirkung zur Vollendung des Guten und Rechten ist sehr selten; gewöhnlich sehen wir Pedanterie, welche zu retardieren, Frechheit, die zu übereilen strebt.


Wort und Bild sind Korrelate, die sich immerfort suchen, wie wir an Tropen und Gleichnissen genugsam gewahr werden. So von jeher, was dem Ohr nach innen gesagt oder gesungen war, sollte dem Auge gleichfalls entgegenkommen. Und so sehen wir in kindlicher Zeit in Gesetzbuch und Heilsordnung, in Bibel und Fibel sich Wort und Bild immerfort balancieren. Wenn man aussprach, was sich nicht bilden, bildete, was sich nicht aussprechen ließ, so war das ganz recht; aber man vergriff sich gar oft und sprach, statt zu bilden, und daraus entstanden die doppelt bösen symbolisch-mystischen Ungeheuer.[502]


»Wer sich mit Wissenschaften abgibt, leidet erst durch Retardationen und dann durch Präokkupationen. Die erste Zeit wollen die Menschen dem keinen Wert zugestehen, was wir ihnen überliefern, und dann gebärden sie sich, als wenn ihnen alles schon bekannt wäre, was wir ihnen überliefern könnten.«


Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß.


Man sagt: »Studiere, Künstler, die Natur!« Es ist aber keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln.


Wo der Anteil sich verliert, verliert sich auch das Gedächtnis.


Die Welt ist eine Glocke, die einen Riß hat: sie klappert, aber klingt nicht.


Die Zudringlichkeiten junger Dilettanten muß man mit Wohlwollen ertragen: sie werden im Alter die wahrsten Verehrer der Kunst und des Meisters.


Wenn die Menschen recht schlecht werden, haben sie keinen Anteil mehr als die Schadenfreude.


Gescheute Leute sind immer das beste Konversationslexikon.


Es gibt Menschen, die gar nicht irren, weil sie sich nichts Vernünftiges vorsetzen.
[503]

Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.


Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besondern zu fügen.


Vom eigentlich Produktiven ist niemand Herr, und sie müssen es alle nur so gewähren lassen.


Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.


Die Zeit ist selbst ein Element.


Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist.


Ein Unterschied, der dem Verstand nichts gibt, ist kein Unterschied.


In der Phanerogamie ist noch so viel Kryptogamisches, daß Jahrhunderte es nicht entziffern werden.


Die Verwechselung eines Konsonanten mit dem andern möchte wohl aus Unfähigkeit des Organs, die Verwandlung der Vokale in Diphthongen aus einem eingebildeten Pathos entstehen.


Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.


Man kann nicht für jedermann leben, besonders für die nicht, mit denen man nicht leben möchte.
[504]

Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen lebendigen Gefühl, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch nicht gleich anerkannt, doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben.


Geheimnisse sind noch keine Wunder.


I convertiti stanno freschi appresso di me.


Leichtsinnige, leidenschaftliche Begünstigung problematischer Talente war ein Fehler meiner frühern Jahre, den ich niemals ganz ablegen konnte.


Ich möchte gern ehrlich mit dir sein, ohne daß wir uns entzweiten; das geht aber nicht. Du benimmst dich falsch und setzest dich zwischen zwei Stühle, Anhänger gewinnst du nicht und verlierst deine Freunde. Was soll daraus werden !


Es ist ganz einerlei, vornehm oder gering sein: das Menschliche muß man immer ausbaden.


Die liberalen Schriftsteller spielen jetzt ein gutes Spiel: sie haben das ganze Publikum zu Suppleanten.


Wenn ich von liberalen Ideen reden höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschällen hinhalten: Eine Idee darf nicht liberal sein! Kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, produktiv zu sein, erfülle. Noch weniger darf der Begriff liberal sein; denn der hat einen ganz andern Auftrag.


Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den Gesinnungen, und diese sind das lebendige Gemüt.
[505]

Gesinnungen aber sind selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht.


Weiter schreiben wir nicht; an diesem Maßstab halte man, was man tagtäglich hört!


Es sind immer nur unsere Augen, unsere Vorstellungsarten; die Natur weiß ganz allein, was sie will, was sie gewollt hat.


»Gib mir, wo ich stehe!«

Archimedes.

»Nimm dir, wo du stehest!«

Nose.

Behaupte, wo du stehst!

G.


Allgemeines Kausalverhältnis, das der Beobachter aufsucht und ähnliche Erscheinungen einer allgemeinen Ursache zuschreibt; an die nächste wird selten gedacht.


Einem Klugen widerfährt keine geringe Torheit.


Bei jedem Kunstwerk, groß oder klein, bis ins kleinste kommt alles auf die Konzeption an.


Es gibt eine Poesie ohne Tropen, die ein einziger Tropus ist.


Ein alter gutmütiger Examinator sagt einem Schüler ins Ohr: »Etiam nihil didicisti« und läßt ihn für gut hingehen.


Das Fürtreffliche ist unergründlich, man mag damit anfangen, was man will.
[506]

Aemilium Paulum – virum in tantum laudandum, in quantum intelligi virtus potest.


Ich habe mich so lange ums Allgemeine bemüht, bis ich einsehen lernte, was vorzügliche Menschen im Besondern leisten.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff, S. 500-507.
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